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„Doch denk daran, dass alles Täuschung ist!“

Im Dickicht der Erzählungen von König Arthur (2011)

Die Hauptfigur singt keine Arie. Das Liebespaar hat kein Duett. Der Bösewicht grollt ohne Noten. Musik erklingt um sie herum: Geister, die durch Sümpfe führen; die Liebe, die den Frost erwärmt; Sirenen, die den Helden reizen. Der Klang gehört vor allem der irrealen Welt, die das reale, im gesprochenen Wort verankerte Geschehen ummantelt und durchdringt. Ins Zentrum ihres zwiegestaltigen Bühnenwerkes King Arthur (1684 / 1691) haben der Dichter John Dryden und der Komponist Henry Purcell den englischen Nationalmythos schlechthin gestellt. König Arthur, jenes aus historischem Dunkel erwachsene Legendengeschöpf, war die Idealvorstellung eines Herrschers, zu dem sich lebende Regenten nur allzu gerne in Bezug setzten und setzen ließen. Die Zahl der Geschichten und ihrer Varianten rund um ihn und die Ritter seiner Tafelrunde war bereits zu Drydens und Purcells Zeit kaum noch zu überblicken. John Dryden beschritt keinen der bekannten Erzählpfade. Er bahnte den Weg zu einem gänzlich neuen Abenteuer und gleichzeitig zurück zum Ursprung aller arthurischen Begebenheiten.

Unter einem Feldherrn, der möglicherweise den Namen Arthur trug, hatten die Briten um das Jahr 500 die entscheidenden Siege über die eingefallenen Angelsachsen errungen. Die Chronisten fabulierten ihn zum König aus, dem besten, den es jemals gab. Die Dichter schrieben ihn begierig fest und fort. Das unentwegte Übermalen und Neugestalten der Figur hat bis heute kein Ende gefunden. Durch die 1136 vollendete Historia regum Britanniae (Geschichte der Könige von Britannien) des Geoffrey von Monmouth erfuhren die bis dahin bekannten Überlieferungen eine gewichtige Synthese. Sie bildete eine Keimzelle für den kurz darauf nahezu explodierenden Mythos von König Arthur, der von Anfang an auch mit der Gestalt des Zauberers Merlin verbunden war. König Arthur war das vage historiografische und zunehmend fiktionale Produkt einer brutalen und chaotischen Zeit, die sich nach Frieden und Ordnung sehnte.

Politik und Theater Zumindest die unentwegte Unruhe der dunklen britannischen „Urzeit“, die den Hintergrund für King Arthur bildet, mutet wie ein ferner Spiegel des barocken Zeitalters der Autoren Dryden und Purcell an. Das England des 17. Jahrhunderts war – weiterhin – geprägt von politischen wie religiösen Umwälzungen und Umdrehungen. 1603 starb Elisabeth I. Die erstaunliche Stabilität ihrer langen Regierungszeit war unter anderem einem klugen innenpolitischen Ausgleich zwischen Krone und Parlament zu verdanken. Ihr Nachfolger Jakob I. begann gegen das Parlament zu regieren, das sein Sohn Karl I. schließlich ganz ausschaltete und damit 1642 einen Bürgerkrieg provozierte. Am Ende dieser Revolution wurde der König 1649 geköpft und die Republik ausgerufen. An ihre Spitze stellte sich Oliver Cromwell als Lordprotektor. Die republikanische Ära Englands endete bereits 1660 mit der Restauration der Monarchie unter Karl II. Sein Bruder Jakob II. brachte ab 1685 durch Vorantreiben seiner katholischen Interessen das Parlament abermals gegen die Krone auf. Bereits 1689 inthronisierte man, nach etwa einjährigem Interregnum, ausgerechnet seine Tochter Maria und seinen Schwiegersohn Wilhelm von Oranien.

Wo stand man da richtig, als Dichter oder Komponist in der Nähe der Mächtigen, wenn sich das Blatt unvorhergesehen wieder wenden konnte? Es war mitunter ein Balanceakt, zumal die darstellenden Künste ohnehin einen schweren Rückschlag erlitten: Die parlamentarische Resolution zu Bürgerkriegsbeginn, alle Theater zu schließen, wurde auch während des republikanischen Jahrzehnts nicht aufgehoben. Die Musik war zudem einem strengen Nützlichkeitsprinzip unterworfen und aus den Kirchen sogar gänzlich verbannt worden. Ausgerechnet die Republik, der Gegenentwurf zum Absolutismus, schnürte der Kunst die Luft ab. Erst unter dem neuen König durfte sie wieder aufatmen. Konnte das Schauspiel noch an die große Tradition der Shakespearezeit und deren Nachklang anschließen, fehlte dem Musiktheater die verständnisvolle Verbindung zur neuartigen Entwicklung der Oper, wie sie sich in der Zwischenzeit auf dem Kontinent herausgebildet hatte.

In Italien waren die szenisch-musikalischen Zwischenspiele („Intermedien“) der Aktpausen eines Schauspiels im Laufe der Zeit zu eigenständigen Musiktheaterwerken gewachsen. In England waren die in ihrer Funktion ähnlichen „Masques“ musikalische Einlagen geblieben, die dafür mit der Haupthandlung zunehmend in Verbindung standen. Die spätere, abwertend gemeinte Bezeichnung als „Semi-Oper“ (Halb-Oper) verdeckt die Bedeutung dieses dann nicht weiter beschrittenen englischen Sonderweges. Viel treffender ist die Charakterisierung eines Werkes wie King Arthur als „dramatick opera“, als „Schauspiel-Oper“: Beide Kunstformen erhalten gleichermaßen ihr Recht, dürfen sowohl für sich brillieren als auch einander ergänzen. Unvergleichlich ist dieses Genre auch deshalb, weil im Gegensatz zur späteren Entwicklung von Singspiel, Operette und Musical die Dialoge nicht Teil der Gesangspartien sind. Die handlungsführenden Protagonisten des Geschehens sind dem Schauspiel, die unterhaltsam vielgestaltigen Begleitfiguren aus dem Reich der Geister, Götter und Allegorien der Oper zugeordnet. Vereinzelt treten in beiden Welten wirkende Wesen sprechend und singend auf.

John Dryden Das Profil der englischen Schauspiel-Oper wurde durch King Arthur maßgeblich mitbestimmt und geschärft. John Dryden war dabei nicht Librettist, sondern der Verfasser jenes Stückes, zu dem Henry Purcell die Musik beisteuerte. Als einer der bedeutendsten Literaten seiner Zeit wurde er später von Gotthold Ephraim Lessing als „großer Dichter“ gewürdigt, von Sir Walter Scott als „Glorious John“ stilisiert und noch im 20. Jahrhundert von W.H. Auden ein „Meister“ genannt.

Geboren am 9. August 1631 in Aldwincle im mittelenglischen Northamptonshire, gestorben am 1. Mai 1700 in London, war John Dryden mehrmals mit dem Wechsel der Macht und dessen Folgen konfrontiert. Seine Ausbildung genoss er zunächst an der angesehenen Westminster School. Dort wurde er schon in jungen Jahren rhetorisch geschult und mit der Kunst dialektischer Argumentation vertraut gemacht. Die hakenschlagenden Verhandlungsstrategien der zwei Rivalen und die gewandt-gewitzten Ansichten von Blindheit in King Arthur haben hier ihre Wurzeln. Am Trinity College in Cambridge setzte er seine Studien fort. In seinen ersten poetischen Äußerungen ließ er eine royale Gesinnung durchblicken und fand dank familiärer Verbindungen dennoch sein Auskommen in der republikanischen Cromwell-Administration.

Kaum war die Monarchie wieder am Zug, trat Dryden mit Lobeshymnen auf den neuen König hervor. Karl II. war ein Liebhaber der sehr freizügigen Komödien der Restaurationszeit, und John Dryden wurde zu einem ihrer spitzzüngigsten Vertreter. Schließlich zeichnete man ihn mit dem Hofamt des „Poet Laureate“ aus. Das behielt er, weil er bereitwillig konvertierte, auch unter dem katholischen Jakob II. Nur war diese konfessionelle Kehrtwende an der Staatsspitze war allzu rasch wieder Makulatur. Unter dem fast plötzlich neuen Herrscherpaar Wilhelm III. und Maria II. fiel Dryden bei Hof in Ungnade und war von nun an gezwungen, sich als Übersetzer antiker Texte und als freier Bühnenautor über Wasser zu halten. Vielleicht erhoffte er, mit einem Huldigungsstück wie dem im Frühjahr 1691 im Londoner Dorset Garden Theatre uraufgeführten King Arthur – das bereits 1684 für das Thronjubiläum Karl II. verfasst und dann in der Schublade verschwunden war –, wieder wohlwollende Aufmerksamkeit zu erregen. Immerhin hatte er nun den bedeutendsten Musiker bei Hof als Komponisten dafür aufzuweisen.

Henry Purcell Als „Orpheus Britannicus“ wurde Henry Purcell nach seinem Tod verehrt – als Nachfahre jenes mythischen Sängers, dessen betörender Gesang selbst die Götter der Unterwelt gnädig stimmte. Bereits zu Lebzeiten war er ein Idol der musikalischen Welt. Dass er im Alter von nur 36 Jahren starb, begünstigte seine postume Mythisierung. Doch das Fundament dieser Verehrung ist Purcells Weiterentwicklung einer form- und farbenreichen Klangsprache, die für die Zeitgenossen aufregend und neu war.

Das kurze Leben Henry Purcells begann in Westminster bei London im Jahr 1659 und endete dort am 21. November 1695. Geboren zu einer Zeit, als die Knebelung der Musik in England wieder ihr Ende fand und dem kunstsinnigen und repräsentationsfreudigen Karl II. das Szepter in die Hand gegeben wurde, fing seine Laufbahn als Chorknabe in der königlichen Hofkapelle an. Nach dem Stimmbruch gelangte er über Assistenzdienste und Stellen als Instrumentenwart und Orgelstimmer schließlich als ausführender Musiker in königliche Dienste. Eine theoretische Ausbildung hatte er durch die damals tonangebenden Komponisten Englands erhalten. Nun war er als „gentleman“ der Royal Chapel als Hoforganist tätig und sorgte mit seinen liturgische Hymnen (Anthems) und weltlichen Oden für die musikalische Ausgestaltung der kirchlichen beziehungsweise höfischen Feierlichkeiten. Die Wechsel an der Spitze der Monarchie taten seiner Wertschätzung und Anstellung keinen Abbruch.

Für zahlreiche Schauspiele zeitgenössischer Autoren komponierte er eine Vielzahl instrumentaler und vokaler Einlagen. Mit Dido and Aeneas (1684 ?) schuf er seine einzige durchkomponierte Oper von einer knappen Stunde Dauer. Henry Purcells übriges musikdramatisches Werk besteht neben King Arthur (1691) aus den weiteren Schauspiel-Opern Dioclesian (1690), The Fairy Queen (1692, nach Shakespeares Sommernachtstraum) und The Indian Queen (1695, abermals unter Mitwirkung von John Dryden). Vermutlich, weil die Opulenz der Hofhaltung vergangener Jahre unter der Doppelregentschaft von Wilhelm III. und Maria II. keine Fortsetzung fand, hatte Purcell ab den 1690er Jahren vermehrt Zeit und Muße, für die Bühne zu komponieren. Sein Tod in der Mitte des Jahrzehnts kam überraschend. Geblieben ist ein Werk von manchmal schmerzlicher Schönheit. Durch ihre Modernität hat seine Musik bis heute nichts von ihrer Kraft und Magie verloren.

Die Zauberei Der Zauber von Purcells Musik unterstützt unter anderem die Zauberei in King Arthur. Sie geleitet in die übernatürlichen Welten und Wälder, von denen der konkrete Kriegsschauplatz eingesponnen ist. Guter wie böser Zauber war im Denken des beginnenden Mittelalters, dem die Geschichte von König Arthur zunächst entstammt, eine Selbstverständlichkeit. Heidentum und Christentum wiesen seit je große Schnittmengen auf. Als Magie galt die willentliche Einflussnahme auf Mensch und Natur, die mittels Beschwörungen und Zaubersprüchen, Amuletten und Elixieren herbeigeführt werden sollte. Von Magiern berichtete man auch, dass sie durch Weissagungstechniken in die Zukunft blicken konnten. Dass auf schadenbringende „schwarze Magie“ die Todesstrafe stand, zeigt, wie überzeugt man von ihrer Existenz war. Wohltätiger Zauber wurde zunächst geduldet. Selbst nachdem die Kirche die Zauberei grundsätzlich als Abfall vom Glauben gebrandmarkt hatte, gediehen die Sammlungen von Zaubersprüchen, die in England noch bis ins 17. Jahrhundert schriftlich fixiert wurden.

Hinter den bisweilen märchenhaft-fantastischen mittelalterlichen Erzählungen von Zauberern und Hexenmeistern zeichnen sich jedoch schemenhaft die Konturen eines keltischen Zeitalters und seiner druidischen Priesterkaste ab. Die Druiden bestimmten die Religion und das Geistesleben der irischen und walisischen Kultur. Ihnen zugehörig war eine Vereinigung von Dichtern, denen teilweise auch das Erlassen und die Auslegung von Gesetzen oblag, die sich als Wahrsager und Astronomen betätigten, die medizinische und wissenschaftliche Autoritäten waren. Man vermutet, dass Druiden ihre Götter anfangs auch mit Menschenopfern zu besänftigen versuchten. Als die Römer die britische Insel eroberten, waren ihnen die Druiden auch als Zentrum des Widerstands ein Dorn im Auge. Selbst die frühmittelalterlichen christlichen Missionare erlebten sie noch als Gegner. Starke Reste ihrer Existenz haben sich bis in die halbhistorische Geschichtsschreibung erhalten. Ganz selbstverständlich tauchen bei Geoffrey von Monmouth fliegende Magier auf. Und Geoffrey ist es auch, der zum ersten Mal einer Figur von druidischem Ursprung zu großer literarischer Prominenz verhilft: dem Zauberer Merlin.

Der Magier Merlin „Es gibt viele Ansichten über Merlin, Sir!“ Lakonisch lässt Tankred Dorst in seinem Drama Merlin oder Das wüste Land (1981) eine Diskussion über das facettenreiche Wesen seiner Titelfigur auf den Punkt bringen. Auch Merlin ist, wie König Arthur, zu einem Mythos geworden. Claude Lévi-Strauss hat die Einsicht formuliert, dass ein Mythos „aus der Gesamtheit seiner Varianten besteht“. Merlin ist das Konglomerat aus vor allem zwei walisischen Erzählsträngen. Frühe Sagen berichten von ihm als Sohn eines Inkubus („der Aufliegende“: in der mittelalterlichen Hexenliteratur der Buhlteufel einer Hexe) und einer frommen Jungfrau. Aus dieser Paarung erklärt sich die Spannung von Merlins magisch-prophetischen Fähigkeiten und seinem Drang, Gutes zu schaffen. Gerade weil er in die Zukunft sehen kann, steht ihm zunehmend die Aussichtslosigkeit seiner Bemühungen vor Augen. Andere Erzählungen sprechen von einem keltischen Barden namens Myrddin, der über den Irrsinn einer Schlacht den Verstand verlor und jahrelang als wahnsinniger Prophet durch die Wälder

Noch vor seiner Historia regum Britanniae (Geschichte der Könige von Britannien) veröffentlichte Geoffrey von Monmouth die Prophetiae Merlini (Prophezeiungen Merlins), die er danach als eigene Kapitel in seine Historia einarbeitete. Er schloss die Merlinfigur an dieser Stelle kurz mit den Berichten über einen Ambrosius genannten Jüngling. Von diesem geht die Sage, er hätte den frühen König Vortigern auf zwei Drachen aufmerksam gemacht, die den Turm, von dem aus er herrschte, untergruben und ihn an den Rand des Einsturzes brachten. Die beiden Drachen deutete er als Briten und Angelsachsen, deren Krieg die Stabilität des Landes zersetze. Dieser Auslegung schließen sich mehrere Voraussagen über die politische Zukunft Britanniens an. In einer eigenen Vita Merlini (Merlins Leben) hat Geoffrey später noch einmal versucht, die Bruchlinien zwischen den von ihm zusammengeführten verschiedenen Sagensträngen zu kitten. Merlin, von dem Geoffrey auch behauptet, er hätte die Kultstätte Stonehenge errichtet, wird zum Baumeister des arthurischen Reiches im Hintergrund. Er sieht voraus und rät, überlässt das Handeln zunächst aber den politisch Verantwortlichen. Er kann – oder will? – nicht einfach alles gut zaubern. Er versucht, Einsichten herbeizuführen.

Merlin tritt nicht nur als Mentor Arthurs auf, er ist maßgeblich verantwortlich für dessen Geburt: Er verhilft König Uther, die Gestalt des ihn befehdenden Herzogs von Cornwall anzunehmen. So schläft dieser mit dessen Frau Ygerna und zeugt mit ihr Arthur, während der wirkliche Herzog in der Schlacht fällt. Merlin begleitet und fördert Arthurs Werden und kann doch seinen Untergang nicht aufhalten. Man erzählt auch, er hätte sich am Ende aus der Welt zurückgezogen: Von einer Nymphe lässt er sich in einen Weißdornbusch einschließen und genießt dort fortan deren Liebe. Merlin war dem Publikum, das 1691 der Uraufführung von Drydens und Purcells King Arthur beiwohnte, eine bekannte und vertraute Instanz. Er war im Bewusstsein der Leser, Hörer und Zuseher bereits aufgeladen mit all den zahlreichen Geschichten, die bis dahin über ihn erzählt worden waren. Ähnlich einer geläufigen Figurenkonstellation wie Mephisto und Faust konnte das Paar Merlin und König Arthur nahezu voraussetzungslos in einer Geschichte auftauchen.

König Arthur Dass eine Lichtgestalt wie König Arthur – fortlaufende Identifikationsfigur der Herrscher Großbritanniens – ausgerechnet Englands dunklem Zeitalter entsprungen ist, verwundert kaum. Gerade eine Epoche, durch deren dürftige Quellenlage die wenigen Fakten höchst fiktionsanfällig sind, eignet sich besonders, im Unüberprüfbaren ersehnte Helden zu formen. Dieses „dark age“ dauerte ungefähr vom Jahr 400 bis 800 und begann, als Britannien sich endgültig von jahrhundertelanger römischer Herrschaft befreit hatte. Dafür fing nun ein schier endloser Abwehrkampf der seit langem romanisierten und seit kurzem christianisierten Briten gegen die einfallenden Schotten, Iren, Pikten und vor allem die heidnischen Angelsachsen an. In dem katastrophalen Hin- und Hergewoge der zahlreichen Schlachten scheint es nur um das Jahr 500 eine für die Briten dauerhaft siegreiche und in Folge friedliche Zeit gegeben zu haben. Dieses kurze Aufatmen will man König Arthur zu verdanken haben, der jedoch bis heute historisch nicht zuverlässig nachweisbar ist. Glaubhaft berichtet wird nur von einem „dux bellorum“, einem Kriegsführer, an dessen Existenz sich im Laufe der Jahrhunderte der Name Arthur festsetzte.

Von „edlen Rittern“ fehlt in dieser frühen Erzählschicht jede Spur. Geoffrey von Monmouths Historia, in der die Linie der britischen Herrscher bis zum trojanischen Helden Aeneas zurückgeführt wird, ist die bewegte Geschichte von Eroberern, die Könige werden; von Helden, die sich zu Königen ausrufen; von Königs- und Tyrannenmorden; von unentwegt sich verschiebenden Machtverhältnissen. Im Mittelpunkt steht König Arthur, dessen Schlachten ein Hauen und Stechen, ein Blutvergießen ohne Ende sind. Er unterwirft die Reiche reihum, befriedet das Land, heiratet Guinevere, zieht gegen Rom und am Ende gegen seinen verräterischen Neffen Modred, den er tötet. Selbst schwer verwundet wird er auf die paradiesische Feeninsel Avalon entrückt. Geoffreys rasch weitverbreitetes lateinisches Werk erfuhr durch den französischen Maître Wace in dessen Roman de Brut (um 1155) eine literarisch leichter fassliche Ausgestaltung. In ihr ist erstmals von jener Tafelrunde die Rede, die jedem Ritter des Königs einen gleichrangigen Platz zuweist. Auf französischem Boden wird aus Arthur nun Artus.

Maître Waces populäre Artus-Version sorgte für einen wahren Boom an Geschichten, die sich an und um dessen Königshof zutragen. Es sind fortan jedoch vor allem die Ritter seiner Tafelrunde, die im Zentrum der Erzählungen stehen. Den König selber, mittlerweile meist als Idealbild inszeniert, erlebt man vornehmlich Hof haltend oder als würdig-tragische Figur im Beziehungsdreieck mit Guinevere und Lancelot. Plötzlich wird auch die Suche nach dem Gral zu einem arthurischen Thema. In Frankreich war es Chrétien de Troyes, der ab den 1170er Jahren mit seinen Epen Erec, Cligès, Lancelot, Yvain und Perceval Berühmtheit erlangte. Im mittelhochdeutschen Raum griffen nur wenige Jahrzehnte später u.a. Hartmann von Aue mit Erec und Iwein sowie Wolfram von Eschenbach mit seinem Parzival die neu begründete Tradition auf. Die Artusrittersagen wucherten von nun an ins Unermessliche. In England unternahm Sir Thomas Malory (1405 – 1471) mit seinem 1485 postum gedruckten Kompendium Le Morte Darthur (Arthurs Tod) den Versuch, alle bis dahin entstandenen Erzählstränge zusammenzufassen. Er schuf damit ein arthurisches Standardwerk, mit dem selbstverständlich auch John Dryden und Henry Purcell vertraut waren.

Die blinde Emmeline John Dryden bediente sich für seinen King Arthur jedoch nicht im damals gängigen arthurischen Motiv- und Figurenfundus. Er bereicherte ihn selbst, von Helena und dem Kampf um Troja wohl wissend, um seine so originäre wie originelle Version. Emmeline – die König Arthur versprochen ist und für deren Eroberung der Sachsenkönig Oswald den Krieg erneut beginnt – ist eine Erfindung des Dichters. Neben ihrer Attraktivität zeichnet sie ihre Blindheit aus. Emmeline ist zu Beginn noch nicht geblendet vom schönen Schein. Sie sieht die Welt fühlend, ohne sich von Äußerlichkeiten beeindrucken zu lassen. Wenngleich sie natürlich begierig auf deren Beschreibung ist. Emmeline hat viel mehr begriffen, als Arthur verstehen kann. Dryden schenkt ihr das Wissen darüber, dass Sehen nicht Erkennen bedeuten muss und Erkenntnis selbst eine Form von Sehen sein kann. In ihrer Blindheit wird Emmeline die größere Einsicht zuteil. Als ihr durch Merlins Zauber das Augenlicht geschenkt wird, steht die Welt um sie herum plötzlich auf dem Prüfstand. Angesichts der Hässlichkeit in Gestalt von Grimbald wünscht sie sich ihre Blindheit für einen Augenblick sogar wieder zurück.

In Emmelines Figur spielt der Autor beziehungsreich mit dem Topos von der Liebe, die blind trifft und die blind macht. Amor nannten die Römer ihren Gott der Liebe. Die Maler zeigten ihn nicht nur geflügelt und mit Pfeil und Bogen, sondern immer wieder auch mit verbundenen Augen: Sinnbild für die Willkür des Gefühls ebenso wie für seine Vorurteilslosigkeit. Cupido war sein anderer Name: Begierde! Viel näher liegt diese Bedeutung bei der entsprechenden griechischen Gottheit Eros. Wie die Erde selbst und die Unterwelt soll auch er aus dem Chaos hervorgegangen sein. Später machte man ihn zum Sohn der Fruchtbarkeitsgöttin Aphrodite und des Kriegsgottes Ares. In ihrer Archaik besitzt die Liebe, ob blind oder wachen Auges, berstende Kraft und ist nie und nimmer harmlos. Emmeline ist das Objekt der Begierde und kann die, die sie begehren, und den, den sie selbst begehrt, zunächst nicht sehen. Sind ihr die Augen erst geöffnet, bleibt abzuwarten, ob die Betrachtung bestätigt, was sie bisher gefühlt hat. Oder ob fortan die Bilder ihre Gewissheit ins Wanken bringen können.

Die Schauspiel-Oper ›King Arthur‹ Durch die neue Frau an Arthurs Seite – Emmeline, die bisher niemand kannte, statt Guinevere, die alle erwarteten – hatte John Dryden sich befreit vom Sog der Sage. Mit Guinevere hätte als Rivale der Ritter Lancelot mit ins Spiel kommen müssen, liebster Freund des Königs und Liebhaber der Königin. Der König als Liebhaber wiederum hätte schlechte Karten gehabt. Keine guten Voraussetzungen für ein Happy End. In der Parzival-Paraphrase König der Fischer (The Fisher King, USA 1991) des Regisseurs Terry Gilliam antwortet der Stadtstreicher Parry auf die Frage, was König Arthur nur ohne seine Guinevere gewesen wäre: „Vermutlich glücklich verheiratet.“ John Dryden muss wohl ähnlicher Ansicht gewesen sein. Mit Emmeline bestand die Chance auf neues Spiel und neues Glück. Und mit dem Sachsenkönig Oswald als Rivalen gab es einen richtigen Gegenspieler und politischen Feind, den es zu bekämpfen galt. Mit der Figur Oswalds konnte Dryden auch wieder an jene historische Realität des Konfliktes zwischen Angelsachsen und Briten anknüpfen, aus dem König Arthur am Ende als umjubelter Sieger hervorgeht.

Auf die frühmittelalterliche arthurische Basisgeschichte baute Dryden eine Figurenkonstellation, die er dem großen elisabethanischen Drama entlehnte. Er hatte bereits im Jahr 1667 eine Bearbeitung von William Shakespeares Der Sturm auf die Bühne gebracht. In King Arthur lässt er nun den Zauberer Prospero als Merlin weiterleben. Der Luftgeist Ariel findet sich als Philidel wieder. Caliban mutiert zum Erdgeist Grimbald. Der eindringende Feind Alonzo kommt als Oswald ins Land. Statt des jugendlichen Helden Ferdinand tritt König Arthur auf den Plan. Prosperos Tochter Miranda, die außer ihrem Vater und Caliban noch nie einen Mann gesehen hat, begegnet uns in Gestalt der blinden Emmeline. Der Wald als verwunschener Schauplatz ist Gegenpol zum illusionslosen Schlachtfeld und ebenfalls aus Shakespeares Welt bekannt. Man mag an den liebesverwirrenden und von Geisterwesen wimmelnden Wald des Sommernachtstraums ebenso denken wie an den Ardenner Wald der Weltflüchtigen in Wie es euch gefällt. Aber auch schon vor Shakespeare war der Wald die gefährliche und anziehende andere Seite der Wirklichkeit. Sein Dunkel gibt den Blick frei auf verborgene Sehnsüchte.

Der Wald in King Arthur ist die Spielwiese der Magier: „Confronting Art with Arts, and Charmes with Charms“ – „Kunst gegen Kunst und Zauber gegen Zauberei“. Grimbald arbeitet für Oswald. Er beherrscht die Elemente und kann die Natur katastrophal verrückt spielen lassen. Er erschafft einen Wald voll von verführerischen Trugbildern. Arthur soll darin wehrlos der Gefahr erliegen. Merlin unterstützt das Geschick Arthurs vor allem durch Voraussicht und seine Geister. Philidel führt seine Pläne aus. Merlin delegiert. Merlin denkt nach. Merlin will den Dingen auf den Grund gehen, um nachhaltig zu handeln und nicht nur im Augenblick Wirkung zu erzielen. Sein Gegner Grimbald dagegen ist ein trickreicher Macher, ein Meister der momentanen Illusion. Die große „Frost-Szene“ – musikalisches Herzstück des Werkes, Musterbild für Henry Purcells kompositorische Meisterschaft – wird von Grimbald veranlasst. Als große Allegorie inszeniert er das Auftauen des Geistes der Kälte durch den Liebesgott Cupido. Mithilfe dieser phantasmagorischen Vorstellung hofft er, die ihm gegenüber gefühlskalte Emmeline zu erwärmen und sie sich gefügig zu machen. Die scheinbar bloß musikalische Einlage erweist sich als inhaltliches Erfordernis.

Auch die anderen Situationen in King Arthur, die in ihrer Überhöhung der Sphäre der Töne und des Klanges angehören, erfüllen jeweils eine wichtige inhaltliche Funktion im Fluss der zentralen Schauspielhandlung. Der Opferkultus der Sachsen fügt sich ebenso folgerichtig in das Geschehen ein wie der triumphale Bericht von der Feier des britischen Siegs. Würde Arthur nicht Oswald nachsetzen und dabei im Sumpf landen – in den ihn die einen singenden Geister locken und aus dem ihn die anderen singenden Geister wieder herausführen –, wäre er längst beschützend bei Emmeline angekommen. Um sie aus Oswalds Gefangenschaft zu befreien, muss er den von Grimbald mit gefährlichen Illusionen ausgestatteten Wald durchqueren und dort den auch musikalisch betörenden Verführungen widerstehen. Es gebührt dem festlichen Abschluss, nachdem alle Abenteuer erfolgreich bestanden sind, dass so melodisch wie schwungvoll ein Loblied auf England angestimmt wird. John Dryden und Henry Purcell haben ihre Schauspiel-Oper King Arthur tatsächlich so zusammengefügt, dass das eine ohne das andere keinen Bestand hat.

Die Stoffgeschichte im Wandel John Drydens und Henry Purcells King Arthur ist Spektakel wie Kammerspiel. Auf den ersten Blick Uneinheitliches wird zu einer großen Einheit verwoben. Selbst wenn die einzelnen Figuren (mit Ausnahme von Philidel und Grimbald) klar den jeweiligen Sparten von Sprech- oder Musiktheater zugeordnet sind, verwischen diese Grenzen im tatsächlichen Handlungsablauf ganz schnell. Schauspieler agieren in Gesangsszenen. Sänger haben ihren Auftritt im Dialog. Und wenn man das Glück hat, Tänzer mitwirken lassen zu können, vervielfältigt sich der Facettenreichtum der Möglichkeiten erneut. An einem einzigen Theaterabend werden drei verschiedene Darstellungsweisen zusammengeführt. Sie reagieren aufeinander und erreichen so, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Der Stilpluralismus unseres Zeitalters, die gleichzeitige Gültigkeit verschiedener Spielarten findet im barocken Bühnenwerk einen fruchtbaren Boden. Die englische Schauspiel-Oper des 17. Jahrhunderts, von Puristen vorübergehend als weder Fisch noch Fleisch geschmäht, erweist sich heute in ihrer offenen Form als moderner denn je.

Innerhalb des Kosmos aller arthurischen Erzählungen ist King Arthur nur ein – wenn auch hell leuchtender – Stern von vielen. Zu jeder Zeit suchten Künstler ihren eigenen Zugang zu diesem Sagenkomplex. Exemplarisch ragen nach Malorys Le Morte Darthur (Arthurs Tod, gedruckt 1685) die von 1859 bis 1886 erschienenen Idylls of the King (Königs-Idyllen) von Alfred Lord Tennyson heraus, der als „Poet Laureate“ des viktorianisches Hofes übrigens ein Nachfahre John Drydens war. 1889 erschien der satirische Roman A Connecticut Yankee in King Arthur’s Court (Ein Yankee am Hofe des König Artus) von Mark Twain. The Acts of King Arthur and His Noble Knights (König Artus und die Heldentaten der Ritter seiner Tafelrunde) des Literaturnobelpreisträgers John Steinbeck (1902 – 1968) wurden postum im Jahr 1977 veröffentlicht. Lange Zeit stand Marion Zimmer Bradleys The Mists of Avalon (Die Nebel von Avalon, 1979) auf den Bestsellerlisten. Als brisante Politparabel auf die DDR knapp vor der Wende verfasste 1989 Christoph Hein das Theaterstück Die Ritter der Tafelrunde. Jürgen Wolf listet im Anhang seiner aktuellen Publikation Auf der Suche nach König Artus (2009) „nur“ die etwa 320 gewichtigen Werke der Artusliteratur vom 6. bis ins 21. Jahrhundert auf. Die umfassende, 2006 erschienene Bibliography of Modern Arthuriana 1500 – 2000 kennt über 4000 Einträge zu Literatur, Comics, Filmen, Musik, Spielen und Kunst.

Im deutschsprachigen Theaterraum haben Tankred Dorst und Ursula Ehler mit ihrem Drama Merlin oder Das wüste Land (1981) das Bild der arthurischen Helden- und Fabelgestalten geprägt. Über zwanzig Jahre später entsprang ihrer Auseinandersetzung mit diesem Mythos ein Nachspiel, mit dem sie nun ausgerechnet Drydens und Purcells King Arthur ihre Reverenz erwiesen: Dorsts und Ehlers Purcells Traum von König Artus wurde 2004 in Darmstadt uraufgeführt. „In dieses alte Stück“, so Dorst, „haben wir ein neues hineingeschrieben. Ein szenisches Palimpsest ist so entstanden, unter dem neuen Text sind die alten Schriftzüge noch hie und da sichtbar.“ Die kriegerischen Eindringlinge sind hier nicht mehr die Britannien besetzenden Angelsachsen, sondern eine Gruppe von Investoren, die ein abbruchreifes Opernhaus aufkaufen wollen. An seiner Stelle soll mit einem Einkaufszentrum eine profitträchtige Immobilie errichtet werden. Die Geister der Oper erwachen und versuchen, ihre einstige Wirkungsstätte zu verteidigen. Purcell selbst singt von der Schönheit vergangener Tage. Dorst: „Wir wollten Disparates zusammenfügen zu einer großen klingenden Apotheose der vom Abriss bedrohten Kunst.“

Emmeline, die bei Dorst der Gruppe der Investoren angehört und sich blind in den Gesang von Artus verliebt, erkennt diesen nicht wieder, als Merlin ihr das Augenlicht schenkt. „Singe, damit ich dich sehen kann!“, bittet sie, aber „König Artus singt nicht, er fürchtet, dass sie über ihn lacht.“ Merlin resigniert angesichts des Realitätssinnes dieser Welt und sehnt sich zurück in das Reich der Fantasie: „Unwissende, vom Licht geblendet! / O schlösse sie die Augen wieder, / dass ihre Blindheit sie / sehen ließe, was das Auge / nicht sehen kann! / Lauschte dem Klang / und fühlte mit ihrer Hand, / dem Tastwerkzeug der Seele, wer / dieser König ist und was er / ihr bedeutet! Kein Trugbild / moderner Technik! Verbirg dich, / Artus, du schöner Gedanke / der Menschheit. Einst / allbekannt, jetzt fremd / im fremden Land! Lass uns zurückkehren, / König, fort aus der vergesslichen Zeit / dorthin zurück, wo alles / dein Reich ist – grenzenlos!“

© Oliver Binder, 2011 – Erschienen im Programmheft zur
›King Arthur‹-Inszenierung von Sigrid Herzog am Theater Augsburg (Bühne: Bernhard Kleber, Kostüme: Katharina Weißenborn) am 7. Mai 2011.

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