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Ich will ihre Spuren auslöschen.

Camille Saint-Saëns’ ›Samson et Dalila‹ – eine romantisierte Apokalypse (2009)

Kollisionen Es ist der Gott der Schlachten und der Armeen, den der Hebräer Samson zu Hilfe gegen die Philister anruft: „C’est le Dieu des combats! C’est le Dieu des armées!“ Und der Oberpriester der Philister verflucht die Rasse der Kinder Israels, deren Spuren er auslöschen will: „Maudite à jamais soit la race des enfants d’Israël! Je veux en effacer la trace!“ Es herrscht Krieg zwischen Hebräern und Philistern. Von Versöhnung ist nie die Rede in Camille Saint-Saëns’ Oper Samson et Dalila, nur von Vernichtung. Und von Hass: „haine“ beherrscht den Wortschatz des Librettos von Ferdinand Lemaire. Der Komponist hat es in seiner Vertonung noch vervielfacht. Nur die Liebe – „l’amour“ – wird öfter ins Treffen geführt. Doch nicht um wirklich zu lieben, sondern abermals im Verlangen zu vernichten. Mittel zum Zweck. Inmitten des Völkerkampfes kocht der Geschlechterkampf. Begehren und Hass bedingen einander. Hassliebe. Samson und Dalila: Der Wortklang des Paares erinnert vage und trügerisch an Romeo und Julia. Was für ein Irrtum.

Die Geschichte von Samson, dem Hebräer, und Dalila, der Philisterin, ist die Geschichte von wechselseitiger Verführung und Vernichtung im Zerrspiegel des Konflikts ihrer Völker. Der Parabel ist es dabei völlig gleichgültig, wer welchem Stamm, welcher Nationalität zugehört. Das Machtspiel des unbesiegbaren Mannes und der unverschämten Frau gipfelt vorübergehend in Samsons größter Verwundung. Die Augen werden ihm ausgestochen. Und vor allem: Man schneidet ihm das lange Haar ab, Zeichen seiner Kraft. Im hebräischen Originaltext tut dies Dalila selbst. Die Tiefenpsychologie spricht von Kastration. Die intimen Statusfragen von Dominanz und Unterwerfung haben wesentlich zu tun mit einem Lustempfinden im Beherrschen des Anderen, das sich auf grausame Weise auch in jeden militärischen Konflikt hinein- und fortfrisst. Krieg hat für seine Treiber und deren Anhänger eine furchtbar erotische Komponente. In all den zahlreichen »heiligen« Kriegen und Kreuzzügen wird diese Erotik zudem religiös aufgeladen. Es wird geopfert. Opfer müssen bluten, so schreibt es die Weltgeschichte im Wechselspiel der Erniedrigung von Anbeginn bis Heute. Jeder gewaltsame Machtwechsel birgt bereits die revoltierende Vergeltung in sich.

Kaum ein Krieg ohne einen Gott. Bis heute werden Waffen gesegnet. Religiöse Führer versichern Kämpfern, für die richtige Seite zu morden. Der Hass wird geheiligt. Wem der Hass ins Herz gepflanzt wird, kann der Gewalt nicht entraten. Solange die kriegstreibenden Hohepriester der Rüstungskonzerne ihre Altäre des Profits errichten, wird die Vernunft das Nachsehen haben. Geld und Gewalt machen geil, und der Dünkel der Zivilisation ist nur eine dünne Decke über deren Abgründen. Verzweiflung, Trauer und Zorn über das eigene Elend sind ein guter Nährboden für Zerstörungswut. Aggression pflanzt sich fort, und ohnmächtig steht man der Tatsache gegenüber, dass ihr kaum Einhalt zu gebieten ist. Davon erzählt die Geschichte von und um Dalila und Samson. Am Ende ist Samson einer von denen, die alle und alles mit sich in den Tod reißen.

Einst und Jetzt „Was uns beschäftigt“, schreibt Thomas Mann in der ›Höllenfahrt‹, dem Vorspiel zu seinem Josephs-Roman, „ist nicht die bezifferbare Zeit. Es ist vielmehr ihre Aufhebung im Geheimnis der Vertauschung von Überlieferung und Prophezeiung, welche dem Worte ›Einst‹ seinen Doppelsinn von Vergangenheit und Zukunft und damit seine Ladung potenzieller Gegenwart verleiht.“ Im Heranzoomen der Gewalttätigkeit des Alten Testamentes – neue Zeit, gleicher Ort – liegt bei Samson et Dalila die Chance auf solch eine Variante potenzieller Gegenwart. Camille Saint-Saëns’ Oper, gleich den auf ihnen basierenden Geschehnissen im biblischen Buch der Richter, ist in Palästina angesiedelt, in der Stadt Gaza. Palästina, dieses religiös wie kulturell so hoch aufgeladene, seit jeher explosive Gebiet der südöstlichen Mittelmeerküste, wurde erst von den römischen Besatzern im Jahr 135 nach dem Seefahrervolk der Philister (das griechische Philistäa wird zum lateinischen Palaestina) so genannt, das sich ebenso wie das der Israeliten um 1300 v.Chr. in der Region angesiedelt hatte. Die heutigen Palästinenser sind keine unmittelbaren Nachfahren der Philister. Sie tragen aber ihren Namen nach dem Mandatsgebiet, das die Briten nach dem 1. Weltkrieg im Rückgriff auf die römische Bezeichnung wieder gewählt hatten. Heute wird sie vor allem für die Arabisch sprechenden Bewohner im Westjordanland und dem Gazastreifen sowie für im Ausland lebende Nachkommen gebraucht.

Dieses Palästina, wie immer die Grenzziehungen und -markierungen über die Jahrtausende im Einzelnen verlaufen sein mögen, ist seit Urgedenken Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen. Ein trauriger, für das große Weltgeschehen aber exemplarischer Brennpunkt von Stammesfehden, Religionsschlachten, Nationalkonflikten, Volksaufständen und Bürgerkriegen. Der alttestamentarische ewige Kampf der Israeliten gegen die Philister macht dabei nur den Anfang. Assyrer (721 v.Chr.) und Babylonier (586 v.Chr.) besetzen das Land, man kann bereits von Deportationen sprechen. Mit der Herrschaft der Römer (63 v.Chr.) verstärkt sich die jüdische Diaspora, Aufstände werden niedergeschlagen. 313 kann sich durch Kaiser Konstantin das Christentum ungehindert verbreiten. 1096 – 1099 findet der erste »christliche« Kreuzzug von Europa aus statt, der in einem Massaker von Juden, Muslimen und einheimischen Christen endet. Heilige Stätten werden mit Waffengewalt erkämpft. Weitere Kreuzzüge verlaufen nicht minder blutig. Ab dem Mittelalter etabliert sich in Europa zunehmend eine grässliche Pogrom-»Kultur« gegen Juden. Im zwanzigsten Jahrhundert soll ein eigener jüdischer Staat in Palästina entstehen, ein eigener arabischer auch. Die deutsch-österreichische Nazidiktatur und die ihrem Schoß entsprungene Shoah machen die Gründung des Staates Israel im Mai 1948 letztlich unabdingbar. Doch die Land- und Macht-Ansprüche im bis heute andauernden Nahostkonflikt zwischen Teilen der arabischen Welt und Israel sind von Anfang an komplex wie ein nicht zu durchschlagender gordischer Knoten. Dauerhafter Frieden wird von nationalen wie religiösen Fanatikern auf beiden Seiten nicht gewünscht. Man fühlt sich jeweils in einem Recht, das – rächend – dem Anderen abgesprochen wird. Genau besehen aber ist der permanente – mal schwelende, mal ausbrechende – Kriegszustand in Nahost nichts als eine triste Formel, auf die auch die europäischen gewalttätigen und hasserfüllten Begebenheiten in Nordirland oder im ehemaligen Jugoslawien gebracht werden können.

Der, die, das ›Andere‹ Wer beherrscht und unterwirft wen? Das ist nicht nur eine Frage der Stärke oder der Macht. Das ist zusätzlich auch eine Frage des Willens und des vermessenen Bewusstseins, im eignen Wesen selbst wertvoller und besser zu sein als der ›Andere‹, um daraus die ärmliche Legitimation abzuleiten, dessen Besetzer und Besitzer sein zu dürfen oder gar sein zu müssen. Die Kolonialherrschaften, die militärisch potente europäische Großmächte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in fremden Ländern mit einer ihr minder dünkenden Bevölkerung errichteten, zeugen in besonders überzogenem Ausmaß von dieser Art Anmaßung. Zu Lebzeiten des Komponisten Camille Saint-Saëns (1835 – 1921) war dessen Heimatland Frankreich die zweitgrößte Kolonialmacht nach Großbritannien in Nordafrika und in Nahost. So nimmt es nicht Wunder, dass gerade in der französischen Kunst des 19. Jahrhunderts der so genannte ›Orientalismus‹ hoch im Kurs stand. In der voyeuristischen Betrachtungsweise einer geheimnisvollen anderen Kultur aus dem begehrlich-lasziven Blickwinkel des abendländischen Bürgers geriet der und die orientalische ›Andere‹ zu einem mysteriösen und bedrohlichen Konstrukt zwischen Dämon und Lustobjekt. Diesen ›Orientalismus‹ definierte 1978 der Literaturtheoretiker Edward Said als „Stil der Herrschaft, Umstrukturierung und des Autoritätsbesitzes über den Orient“. Man findet ihn in der Malerei ebenso wie in der Literatur und nicht zuletzt in der Musik. Ein exotisches Ambiente wird zur Projektionsfläche von Ängsten und Wünschen.

Camille Saint-Saëns’ Oper Samson et Dalila steht, neben beispielsweise Giacomo Meyerbeers L’Africaine oder Léo Delibes’ Lakmé, in einer Reihe von Werken, die sich eines imitiert exotischen Reizes im Lokalkolorit des Schauplatzes samt fataler Erotik um eine begehrliche Frau mit faszinierend fern anmutendem musikalischem Farbenreichtum bedienen. Auch das Musiktheater der französischen (Spät-)Romantik nutzte begierig die verführerischen Möglichkeiten mit erfundenen, nachempfundenen oder auch aus Originalweisen adaptierten fremden Melodien und Klängen eine exotische Atmosphäre zu schaffen. Alle diese Kunstwerke sind aber nicht selbst exotisch, sondern werden, weil sie eine künstliche Exotik erfinden, exotistisch genannt. ›Exotismus‹ ist die entsprechende Bezeichnung, deren Ursprung ebenfalls im Frankreich des 19. Jahrhunderts liegt und 1863 vom Schriftsteller Théophile Gautier programmatisch eingeführt wurde. Der Exotismus durch spezifische Modi, auch Modulationen und instrumentale Farben findet in Saint-Saëns’ Samson et Dalila vor allem in der Welt der Philister seinen Ausdruck, während die Klangwelt der Hebräer von europäischer Sakralmusik (Choral) und klassischen Stilmitteln (Fuge) getragen wird. Die Fragwürdigkeit von vorgetäuschter Authentizität war dem hellsichtigen Komponisten aber durchaus bewusst, wenn er 1879 in seiner Abhandlung über die Zukunft der Musik in Frankreich schreibt: „Mit unserem System der Halbtöne und der entsprechenden Notierungen kann man die musikalische Wahrheit (fremder Kulturen) nicht erfassen …   es ist nur eine Annäherung möglich, und vielleicht wird die Zeit kommen, in der unsere Ohren, mittlerweile raffinierter geworden, sich damit nicht mehr zufrieden geben.“

Künstler und Werk, flüchtig Camille Saint-Saëns war ein Künstler mit Haltung. Als Komponist geschmäht zunächst als Neutöner, dann als Reaktionär, ist er sich und seinen Ansprüchen aus Überzeugung und gegen alle Widerstände bis zum Ende seines Lebens treu geblieben. „Ich bin die Zukunft gewesen“, wird er als alter Mann sagen, „in meinen Anfängen wurde ich als Revolutionär apostrophiert, und in meinem Alter kann man nur noch ein Vorfahre sein.“ Geboren am 9. Oktober 1835 in Paris wächst Saint-Saëns, nach dem baldigen Tod seines Vaters, bei seiner Mutter und seiner Großtante auf. Er ist ein Wunderkind auf allen Gebieten und wird als solches auch von den beiden Frauen erzogen und aufgezogen. Früh lernt er das Klavierspiel, schon als Kind beginnt er zu komponieren, und tritt öffentlich und erfolgreich als Solist in Erscheinung. Sein Ruf als Musiker dringt bald über Paris hinaus, es entwickelt sich eine Freundschaft zu Franz Liszt. Er ist Vorkämpfer für Wagner noch vor dem französischen ›Wagnerisme‹. Er wohnt weiterhin bei Mutter und Großtante. Nach dem Tod der Großtante lebt er alleine mit seiner Mutter: Eine „zweifelsfrei problematische Beziehung“, schreibt Michael Stegemann, „über deren Spannungen man nur Mutmaßungen anstellen kann.“ Bis zum Jahr 1875 ist über seine Beziehungen zu Frauen fast nichts bekannt, dann heiratet er die 19jährige Schwester einer seiner Schüler. Zwei Söhne sterben im Kleinkindesalter, die Ehe endet ohne Scheidung, Saint-Saëns kommt einfach nicht mehr zurück.

Es ist die Zeit, in der er auch an Samson et Dalila komponiert. Der Eröffnungschor ist bereits im Dezember 1859 entstanden. Die weitere Komposition des Werkes ging dann in den Jahren von 1868 bis 1877 von statten. Den zuerst fertiggestellten 2. Akt präsentierte Saint-Saëns bereits 1868 in einem Pariser Salon und 1874 in einem Gartentheater in Croissy. 1875 kam es im Pariser Théâtre du Châtelet zu einer konzertanten Aufführung des 1. Aktes, der Publikum wie Presse reserviert gegenüberstanden. Franz Liszt bestärkte den Freund, dieses ursprünglich als Oratorium gedachte Werk auch wirklich als Oper zu vollenden. So kam es in deutscher Sprache als Simson und Delila am 2. Dezember 1877 zur von Eduard Lassen dirigierten Uraufführung an dem von Liszt geleiteten Hoftheater in Weimar. Die Aufführung geriet zum Triumph und dennoch zögerten andere Bühnen, die heute populärste Oper Saint-Saëns’ nachzuspielen. In Brüssel war sie 1878, nur konzertant, zum ersten Mal in französischer Sprache zu hören. Den Weg auf die Bühne der Pariser Oper fand Samson et Dalila erst im Jahr 1892.

1888 stirbt Saint-Saëns’ Mutter, ein Jahr später taucht er ab, gilt vorübergehend als verschollen und lebt bis 1904 ausschließlich in Hotels und Pensionen. Noch vor der Jahrhundertwende beginnt allerdings endlich eine von zahlreichen Ehrungen begleitete, zunehmende öffentliche Anerkennung seiner Person und seines Werkes. Trotzdem sind es gleichzeitig lange Jahre einer freiwilligen Vereinsamung. Gefährtin ist ihm eine Rauhaarpinscherhündin mit Namen Dalila. Er überrascht, als er sich vehement für die italienischen Veristen einsetzt. Er gibt weiterhin Konzerte und schafft sich mit wohlüberlegten kritischen Schriften keine Freunde auf keiner Seite. Am 16. Dezember 1921 stirbt der „Voltaire der Tonkunst“, wie ihn Georges Servières nannte, in Algier. Der Unbequeme, auf den man so stolz war, wird mit einem Staatsbegräbnis auf dem Cimitière Montparnasse beigesetzt.

Kalkulierte Sinnlichkeit Natürlich ist Camille Saint-Saëns ein Meister der schmeichelhaften Töne. Die Schmeichelei jedoch ist, zumindest im Falle von Samson et Dalila, sehr zielgerichtet eingesetzt für die privaten und politischen Machtinteressen der Protagonisten. Und der Wohlklang selbst hat mitunter doppelten Boden: Nachdem Samson den Philister Abimélech niedergestreckt hat, bricht er mit den befreiten Hebräern auf. Ein Bote berichtet, dass diese Truppe marodierend durchs Land zieht. Zurückgekehrt von diesem Zug stimmen die Hebräer einen stimmungsvollen Choral an, dankend für ihre Befreiung – und ihre geglückte Rache. Friedvoll klingt diese Hymne, in der jedoch erneut der Gott des Krieges gepriesen wird. Die gnadenlose Vergeltung reibt sich enorm mit der ihr entsprungenen musikalischen Beseeltheit. Sakraler Lobpreis nach getaner Gräueltat. Man muss das Libretto der Oper im Wortlaut lesen, um zu merken, wie durchdacht manchmal Musik die Verhältnisse verbrämt. Die philistäischen Höhn- und Hassattacken Abimélechs, des Oberpriesters und teilweise Dalilas finden hingegen einen sehr unmittelbaren, brutalen musikalischen Ausdruck.

Hymnen und Märsche werden durch ihren feierlichen Gestus seit jeher dazu benutzt, Wirkung zu erzielen, Emotionen anzufachen, Massen zu mobilisieren. Auch der politische Führer Samson nutzt, um den Widerstandsgeist seines unterdrückten Volkes anzufachen, die Rhetorik des weihevollen Lobgesangs und der Marschrhythmen. Er stimmt die erhabene Tonsprache der Agitation an, um einzustimmen auf den bevorstehenden Befreiungskampf. Das Anstacheln zum Aufbegehren mutiert mittels musikalischer Würde zum »heiligen Zorn«. Der Protest bedarf der Leidenschaft, und die lässt sich gut von affektgeladenen Tönen und Klängen inspirieren. Samson ist zwar Befehlshaber, doch aus der depressiven Apathie der Knechtschaft kann er die Hebräer wirklich wirksam nur durch eine religiös aufgeladene Vereinigung von Führung und Verführung wachrütteln. Der eigenen Verführung durch die Frau der Feinde kann er nicht standhalten. Für die Philisterin Dalila ist ihre libidinöse Verführungskunst zunächst eine letzte Möglichkeit, dem Schlimmsten zu entkommen, in Folge dann aber auch, Schlimmstes anzurichten.

In der Komposition findet diese Verführungskunst Niederschlag darin, was Ulrich Schreiber „musikalisierte Weiblichkeit“ nennt. Doch auch die betörenden Klänge in Dalilas umgarnenden Gesängen haben einen doppelten Boden. Was als Hohelied der Sinnlichkeit erklingt, erfüllt zielgerichtet die Funktion der Vernichtung. Nur in der völligen körperlichen Hingabe wird der feindliche Kämpfer Samson schwach. Das ist es, was Dalila mit ihren Mitteln erreichen will. Ob dabei dennoch ein durchaus vom Hass gespeistes Begehren im Schwange ist, sei dahingestellt. Lust an der Erniedrigung allemal, die in perfide-zärtlichen Tönen eine Romantik vortäuscht, hinter der Verrat und Verderben lauern. Dalilas Verhalten ist auch musikalisch von einer ununterbrochenen Ambivalenz durchzogen, der Samson nicht Herr werden kann. Als starkem Militär ist ihm sein Sieg gewiss. Als liebesverlangender Junge wird er zur kläglichen Figur. Der im Schlachten demütigte, wird nun selbst geschunden. Mit Samsons Untergang ist vorerst auch das Schicksal seines Volkes besiegelt.

Exzesse Es wird ein Fest gefeiert. Sieg über die Hebräer, für diesesmal. Ein Fest im Krieg, einem längeren Krieg schon. Ein Bacchanal findet statt mit einer Musik, die erst irrlichtert, dann höhnisch walzerselig sich wiegt und schließlich gewalttätig dahinrast. Eine dem Weingott Bacchus (Dionysos) ergebene Orgie, ausschweifend, ohne ihr Einhalt gebieten zu können. Bereits die Tragödie Bakchai (Die Bakchen, 408/407 v.Chr.) des griechischen Dichters Euripides erzählt von den furchtbaren Verquickungen von Lust und Gemetzel unter der tödlichen Leitung des Gottes Dionysos. Die römischen Bacchanalien im 2. Jahrhundert v.Chr. mussten wegen ihrer unkontrollierbaren Anarchie von Sexualität, Gewalt und Trunkenheit vom Senat sogar verboten werden.

Was auf Festen im Krieg, diesem Zustand fern jedes Menschseins, alles sich Bahn brechen kann, lässt das öffentliche Bewusstsein oft erst Jahrzehnte zu. Apokalypse, das bedeutet ›Enthüllung‹, ›Offenbarung‹. In einem solch apokalyptischen Licht erscheint ein Bacchanal der grausamsten Art, das am 24. März 1945 in Rechnitz im österreichischen Burgenland stattfand. Kurz vor dem Ende des 2. Weltkriegs war die Gräfin Margit Batthyány, Schwester des Großindustriellen Hans Heinrich Thyssen-Bornemisza, Gastgeberin eines Kameradschaftsfestes auf ihrem Schloß in Rechnitz. Geladen waren SS-Offiziere, Gestapo-Führer und einheimische Kollaborateure. Zur champagnertrunkenen Mitternacht wurden vom Ortsgruppenleiter Franz Podezin Waffen an ungefähr zehn Festgäste ausgegeben und man begab sich zum nahegelegenen Kreuzstadl, wo man etwa 180 ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter in ihr Grab schoss. Die Rolle der Gräfin in dieser festlichen Mordnacht konnte bis heute nicht endgültig geklärt werden.

Die österreichische Dichterin Elfriede Jelinek hat 2008 über dieses Massaker ein beklemmendes, sprachmächtiges, gewaltiges Stück geschrieben: Rechnitz (Der Würgeengel). „Der Herr Geschichtsprofessor wieder“, berichtet dort einer der Boten, „lässt Ihnen durch sein Klitterungsklistier von der Rückseite her – denn auf der Flucht sieht man die Menschen ja nur von hinten – ausrichten, dass Menschen, die sich im schwärmenden Lauf vor der rotflammenden Pechglut ihrer eigenen Häuser retten müssen, keine Zeit haben für Orgien, Saufereien, kreuz und quer im christlichen Abendland bis zum Morgenland, bis zur Menschheitsdämmerung in der Früh Rumficken und andre Blödheiten, bei denen man letztlich doch die Arschkarte aus dem vollgebluteten Sakko zieht.“

© Oliver Binder, 2009 – Erschienen im Programmheft zur ›Samson et Dalila‹-Inszenierung von Tilman Knabe an der Oper Köln (Bühne: Beatrix von Pilgrim, Kostüme: Kathi Maurer) am 9. Mai 2009.



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