Oliver.Binder.gif

Den Mörder selbst zu morden?

Lesarten und Spurensuchen in Beethovens ›Fidelio‹ (2004)

Die Wurzeln der Wirklichkeit Wie Loges Feuerwall um den Brünnhildenfelsen, so wabert oft auch heute noch ein nicht zu durchschreitender Ring von Erhabenheit um Ludwig van Beethovens einzige Oper. Fast unantastbar erschien sie bisweilen so in den letzten fast 200 Jahren. Wurde stilisiert zu einer zu großen Ideen geronnenen Musik. Aus Mangel an eigenem Edelmut berauscht man sich nur allzu gerne an der Weihe heroischer Bühnenschicksale. Gewünscht wird eine feierliche Festaufführung. Fern der Niederungen des täglichen Lebens sucht man nach Hochgestimmtheit in der Kunst. Und doch entwächst genau diese Kunst wiederum dem täglichen Leben, der Chronik laufender Ereignisse. Die Wunden eines solchen täglichen Lebens, Beethovens eigenes unstillbares und oft krampfhaftes Sehnen nach Liebesglück und erfüllter Lebenspartnerschaft beispielsweise, mag man freilich auch (!) aus der Vehemenz des Schlusschores heraushören. Man sollte nicht vergessen, dass der Schöpfer eines Meisterwerkes, gerade auch der zum Mythos gewordene Titan der Musikgeschichte - Beethoven! - mit der Wirklichkeit zu ringen hatte.

Unausweichlich schließt diese Wirklichkeit die unheilvoll wechselvollen Wendungen der französischen Revolution mit ein. Der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789; die „Erklärung der Menschenrechte" am 26. August 1789; die Verfassung, welche Frankreich 1791 zur konstitutionellen Monarchie formte; die Septembermorde des Jahres 1792, die Abschaffung des Königtums und die Einführung der Republik; die Hinrichtung Ludwigs XVI. und Marie Antoinettes 1793; der Terror der Jakobinerherrschaft; das pausenlose Wüten der Guillotine; die Verschwörung gegen Robespierre, sein Sturz und seine Hinrichtung am 27. Juli 1794; die Zeit des Direktoriums bis 1799, das am 18. Brumaire (9./10. November 1799) von Napoleon aufgelöst und durch das Konsulat ersetzt wird; Napoleons Errichtung einer Militärdiktatur, seine Ernennung zum Konsul auf Lebenszeit 1802; schließlich seine Erhebung zum Kaiser am 2. Dezember 1804 unter Mitwirkung des Papstes; die Konstituierung des Ersten Empire als erbliches Kaisertum … All diese Ereignisse waren für Ludwig van Beethoven mittelbare und unmittelbare Realität. Er, der ausdrückliche Anhänger der Ideale der französischen Revolution, beschwört ihre Musik oft bis ins Detail.

Die Fabel und ihre Facetten Ihm, Beethoven, dem Unbequemen, der unerbittlich und unwirsch seine Umwelt zu tyrannisieren vermochte, ihm war die Losung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ein hohes Prinzip. Für seine einzige Oper greift der Komponist nicht von Ungefähr auf ein bereits zuvor vertontes Libretto von Jean Nicolas Bouilly zurück (Leonore oder Die eheliche Treue), dem ein vermeintlich wahrer Fall der Revolutionswirren zugrunde liegt. Die Vermengung vager Hinweise, die von der Bezeichnung des Stückes als fait historique bis zu einer 1891 erschienenen Novelle (Das Urbild des Fidelio) des Sängers und Theaterleiters Ernst Pasqué reichen, haben zu jener Legendenbildung beigetragen, Bouilly selber wäre in eine solche Begebenheit aktiv verwickelt gewesen. Dies alles ist wenig wahrscheinlich, denn jene angeblichen historischen Ereignisse in der aufständischen Provinz Vendée können sich erst nach der Niederschrift des Librettos zugetragen haben. Für Beethoven, noch unberührt von den geschichtlichen Rekonstruktionsversuchen späterer Jahre, war dies alles nicht von Belang. Die Geschichte besitzt Modellcharakter, so oder so.

Jenseits aller Spekulationen bleiben die Vorgänge rund um Leonore-Fidelio, Florestan, Pizarro und Rocco, gleichgültig wie auch immer sie geheißen haben mögen, verankert in der Aktualität der Revolutionsjahre. Und gleichzeitig weisen sie exemplarisch weit darüber hinaus. Die Aufschlüsselung der Geschichte im Lichte ihrer Entstehungszeit aber bedeutet: Florestan hat versucht, einen Aufstand gegen die Auswüchse des jakobinischen Terrors anzuzetteln, sei's als adeliger Vertreter des anciem regime, sei's als einstiger Mitstreiter der Revolution. So entstammt auch Pizarro der Partei jener Idealisten, die einst für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit eingestanden waren, nun aber den Terror als legitimes Mittel entdeckt haben. Der Scharfmacher Pizarro: ein »Falke«, eine »Neocon« der Revolution. Womöglich aber saßen die beiden einst im selben Boot. Die Feindschaft zwischen ihnen muss noch andere Gründe haben als die nunmehrige politische Gegnerschaft. Neben der „Wahrheit" die Florestan „kühn zu sagen" wagte, scheint der fanatische Hass Pizarros gegen ihn weit tiefer zu wurzeln. Florestan ist Pizarros Wunde. Pizarro dürstet danach „den Mörder selbst zu morden". Und er hat keinen Grund, ihn an dieser Stelle anderen gegenüber zu verleumden. Wen Florestan auf dem Gewissen hat und weshalb, bleibt ungesagt. Heroen - die guten wie die bösen - können nicht frei sein von Widersprüchen und Ungereimtheiten; in ihrem Wesen wie in ihrer Biografie.

Doch das alles ändert nichts daran, dass Florestan willkürlich von Pizarro gefangen gehalten wird. Das aber bedeutet: Alle anderen Gefangenen befinden sich in den Augen der Herrschenden, in der Oper vertreten durch den Minister des Königs, zu Recht in Haft. Außer in den Ausführungen der meisten Opernführer ist nirgendwo die Rede von ihrer Freilassung. Ob diese Anderen auch objektiv zu »Recht« eine Strafe verbüßen, daran lässt uns Beethoven durch seine Musik und ihren Gesang stark zweifeln. Dennoch gerät so Florestans Befreiung zum vereinzelten öffentlichen Gnadenakt mit kalkulierter Außenwirkung. Manch einer wird eben doch freier als andere. Die Welt glauben zu lassen, wer die Guten und wer die Bösen sind, sogar was die „Achse des Bösen" sei, ist seit jeher und meist mit Erfolg eine Frage guten Marketings gewesen. „Wahrheit kreieren", so lautet mittlerweile die Sprachregelung. Politische Willkür wird heute ungeniert vor den Augen der Weltöffentlichkeit zelebriert, getarnt als Schutz der Demokratie. Das Wort Freiheit ist rasch vergessen, wenn versucht wird, das Wort Brüderlichkeit für die Fernsehkameras zu buchstabieren, wenn man Bündnis meint.

Der bittere Verfall der Aktualität Nur den raschen Läufen der unzähligen Katastrophen der Welt ist es zu »verdanken«, dass das Schicksal der Gefangenen auf Guantánamo Bay zur Zeit nur noch als Nebenschauplatz der Berichterstattungen existiert. Spurenverwischung auch im Irak: Das Gefängnis in Abu Ghraib soll abgerissen werden. Kein Ort, nirgends. Auch Menschen lässt man verschwinden. In der politischen Wirklichkeit so genannter undemokratischer, totalitärer Staaten steht dies an der Tagesordnung. Die von amnesty international erfassten aktuellen Fälle, die mit ihren Bildern dieses Heft stellvertretend für so viele andere begleiten, legen beredtes Zeugnis davon ab. Guantánamo Bay und Abu Ghraib aber sind Auswüchse jener amtierenden Administration einer Weltmacht, die sich selbst als Urmutter heutiger Demokratie feiert. Am 13. Juli 2004 erklärte in Genf die Sprecherin des Internationalen Komitees vom roten Kreuz: „Wir haben Zugang zu Personen, die von den USA in Guantánamo, Afghanistan und Irak festgehalten werden, aber soweit wir wissen, gibt es auch Personen außerhalb dieser Orte, über die wir nicht unterrichtet wurden." Bereits kurz zuvor hatte die Menschenrechtsorganisation Human Rights First von amerikanischen Geheimgefängnissen berichtet, von denen sich sieben in Afghanistan, zwei in Pakistan, eines auf der Insel Diego Garcia im indischen Ozean, eines in Jordanien und zwei auf US-Kriegsschiffen befinden sollen.

Zur Verantwortung gezogen werden zunächst immer und fast ausschließlich die Roccos und Jaquinos. Die Pizarros waschen ihre Hände in Unschuld. Die Minister mimen, sobald es opportun erscheint, die verständnisvoll Betroffenen: „Guantánamo ist eine Anomalie, die zu einem bestimmten Zeitpunkt zu Ende gebracht werden muss." Diesen Satz brachte der englische Premier Tony Blair tatsächlich vor einem Untersuchungsausschuss Anfang Juli 2004 über die Lippen. Und er bestätigte, dass er US-Präsident George W. Bush persönlich um die Freilassung von vier (!) in Guantánamo inhaftierten britischen Staatsbürgern gebeten habe. Beethovens Fidelio: Die aktuellen Bezüge von heute werden morgen schon veraltet erscheinen. Aber sie werden durch neue Ereignisse, die die Wirklichkeit tagtäglich ausspuckt, ersetzt. „Bei allem Reichtum an Perspektiven liegt die Bedeutung der Beethoven'schen Musik in ihrer zusammenfassenden und einenden Kraft; sie ist nicht verfügbar für platte ideologische Vereinnahmungen", schreibt Martin Geck, „freilich offen für Deutungen ihrer Intentionen."

„Wer ein solches Weib errungen“ Die ideologische Vereinnahmung von Beethovens Manifest in tyrannis stand freilich immer wieder an der Tagesordnung. „Wie durfte denn Beethovens Fidelio, diese geborene Festoper für den Tag der deutschen Selbstbefreiung, im Deutschland der zwölf Jahre nicht verboten sein? Es war ein Skandal, dass er nicht verboten war", klagte Thomas Mann Ende der 1940er Jahre, „sondern dass es hochkultivierte Aufführungen davon gab, dass sich Sänger fanden, ihn zu singen, Musiker, ihn zu spielen, ein Publikum, ihm zu lauschen. Denn welchen Stumpfsinn brauchte es, in Himmlers Deutschland den Fidelio zu hören, ohne das Gesicht mit den Händen zu bedecken und aus dem Saal zu stürzen!" Und der Ärger packt auch den Schriftsteller Günther Anders, der 1958 in sein Tagebuch notiert: „Waren im Fidelio. - Deprimierend, wie enthusiastisch sie nachher klatschten und riefen, dass sie sich ausschließlich als Publikum benahmen. Ihr Leben, ihre Überzeugungen, ihre Schuld hatten sie an der Garderobe abgegeben. Keinem fiel es ein, zwischen der Handlung des Stückes und den eigenen Erfahrungen eine Brücke zu schlagen. Dass es sich bei der Heldin um eine Frau handelt, die einen durch Willkür Entrechteten befreit (...), also um ein Schwester all derer, die sie noch eben mit den Augen des Diktators gesehen, der Polizei des Diktators denunziert oder sogar mit den Waffen des Diktators selbst misshandelt hatten, das spürten sie nicht."

„Ohne die heldenhafte Aufopferung der Frauen aller Stände und jeden Alters, ohne ihre unermüdliche Standhaftigkeit, am Unglück mitzuwirken, hätte ich vielleicht nie die Kraft gehabt, die Barbarei und die Verachtung der Männer zu ertragen, die mir damals den schrecklichen Anblick von ausgehungerten Wölfen, die über eine Schafherde herfallen, boten." Das berichtet der Schöpfer des Leonoren-Stoffes, Jean Nicolas Bouilly, in seinen Memoiren über die heldenhaften Frauen, die ihm zur Zeit der Aufstände 1793 in der Tourraine begegnet waren. Und Heldenmut muss man auch der als Fidelio verkleideten Leonore zugestehen. Der Einsatz ist hoch. Kompromisslos erfüllt sie diesen ihren »Auftrag«. „Aimer, c'est agir." - „Lieben heißt handeln", so notierte einst Victor Hugo in sein Tagebuch. Die Leonoren heute stehen nach wie vor auf gegen die Willkür, die ihre Männer, Söhne und Töchter verschwinden lässt, foltert, umbringt. Sie tun das mit deren Foto in der Hand auf öffentlichen Plätzen in den Diktaturen Südamerikas. Die Bilder aus der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires von den Frauen der Plaza de Mayo gingen einst um die Welt. Sie riskierten und riskieren ihr eigenes Leben. Sie haben sonst oft nichts mehr zu verlieren. Dann freilich ist auch blindem Fanatismus Tür und Tor geöffnet, wenn sich die tschetschenischen »schwarzen Witwen« oder palästinensische Selbstmordattentäterinnen in die Luft sprengen. Ein letztes verzweifeltes, wie immer unbrauchbares Mittel. Die Pistole in der Hand einer Frau überrascht keinen mehr. Im Verhältnis zur Wirklichkeit bleibt es oft der Opernbühne vorbehalten, zu einem guten Ende zu gelangen. Auch wenn einem solchen Ende in Beethovens Fidelio der Lobpreis der Gattenliebe fast atemlos entgegen hetzt. So, als müsste der glückliche Ausgang der Geschichte lautstark herbei gesungen werden, weil die Utopie der Realität nicht standhalten kann. Der Schlusschor als Hilfeschreie.

© Oliver Binder, 2004 / 2007 - Erschienen im Programmheft zur ›Fidelio‹-Inszenierung von Christian Pade an der Oper Dortmund (Bühne und Kostüme: Alexander Lintl) am 3. Oktober 2004.

Bottom.gif