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Maskeraden der Bourgeoisie.

›Die Fledermaus‹: Unterhaltung am Rande des Abgrunds (2009)

„Das stolze Gebäude meiner Hoffnungen ist assekuranzlos ab’brennt, meine Glücksaktien sind um hundert Prozent g’fall’n, und somit belauft sich mein Aktivstand wieder auf die rundeste aller Summen, nämlich auf Null.“ In Johann Nestroys Posse Der Talisman (1840) bedient sich der rothaarige, nur mittels Perücken-Maskerade gesellschaftlich aufgestiegene Titus Feuerfuchs in Zeiten des erstarkenden Wiener Wirtschaftsbürgertums einer pointierten Finanzmetaphorik, um die Wendung seines Schicksals zu skizzieren. Krise ist eigentlich immer. „Es is alles uralt, nur in anderer G’stalt!“ lautet der lapidare Refrain eines Nestroy-Couplets. Regelmäßig krachen nicht nur Existenzen, sondern auch die angeblich existenzsichernden Finanzmarktfundamente zusammen. An der Wiener Börse hat es zu Lebzeiten von Johann Strauss Sohn (1825 – 1899) zweimal ganz besonders gekracht: 1848 – darauf folgte die Revolution. Und 1873 – darauf folgte die Depression.

Auch wenn er später die Erinnerungen daran vergessen machen wollte, liebäugelte Johann Strauss mit dieser Achtundvierziger-Revolution, schrieb einen Revolutionsmarsch und ließ sogar öffentlich die Marseillaise spielen. Dem kapitalen Börsenkrach des Jahres 1873 hingegen folgte er nicht in die allgemeine Depression, sondern in deren vergnügungssüchtige Verneinung. Mit der Fledermaus (1874) ließ er fortan alle glücklich sein, die vergessen wollten, was doch nicht zu ändern war. Doch die Fledermaus verdrängt selber nichts, sie stellt die Verdrängung zur Schau. Und weil sie als Operette trotzdem unterhält, ist sie gerade darin ein Meisterwerk der Täuschung. Dieser strahlende Stern der Wiener Operette wirft sein Licht mit einem warmen Lächeln kaltherzig auf die Lüge. Hinter dem diffusen schönen Schein ist das wahre Sein immer zu erkennen. Das Erkennen findet statt, trotzdem man vorgibt, wegzuschauen. Durchschaubar ist die Einbildung, und sie dient der Zerstreuung. „Das is wohl nur Chimäre, aber mich unterhalt’s“: Nestroy, schon wieder.

Jedem seine Maske Von Anfang bis Ende sind die Figuren der Fledermaus mit einem Täuschungsmanöver nach dem anderen beschäftigt. Einzig der Sänger Alfred macht sich über die Frage von Schein und Sein nichts vor: „Glücklich macht uns Illusion, / Ist auch kurz die ganze Freud.“ Er spielt mit der bürgerlichen Fassade, die er für ein Rendezvous erklimmt, nimmt nichts so ganz ernst, und lässt sich, um Rosalindes Reputation zu wahren, in der Montur ihres Gatten als Gabriel von Eisenstein ins Gefängnis führen. Ein vorübergehender, nicht ganz freiwilliger Identitätswechsel, den er aber zumindest zunächst noch „von der humoristischen Seite“ auffasst. Ihm ›passiert‹ der Rollentausch mehr oder weniger, während im weiteren Verlauf des Stückes die Protagonisten sich vorsätzlich hinter einem falschen Selbst verstecken. Dabei ist Rosalinde die einzige, die als ›ungarische Gräfin‹ auf Orlofskys Fest ihre Züge tatsächlich hinter einer Maske verbirgt. Die Masken der anderen bestehen allesamt aus dreister Behauptung. Man zeigt Gesicht, lügt mit offenem Visier: Gabriel von Eisenstein als ›Marquis Renard‹ (= ›Fuchs‹), seine Bedienstete Adele als Künstlerin ›Olga‹ und der Gefängnisdirektor Frank als ›Chevalier Chagrin‹ (= ›Verdruss‹).

Gelogen wird nicht erst bei Orlofsky. Schon zu Hause ist die Wahrheit nicht zu Hause. Natürlich verschweigt Gabriel von Eisenstein seiner Frau, dass er sich vor dem Beginn seiner Haftstrafe in Erwartung eines erotischen Abenteuers noch einmal richtig amüsieren will. Natürlich verschweigt Rosalinde ihrem Mann, dass ihr erotisches Abenteuer nur auf seinen Abgang wartet. Die Masken der großstadtbürgerlichen Heuchelei tragen beide von Anfang an. Gabriel von Eisensteins Entlarvung ist das Ziel von Dr. Falkes Rache. Rosalinde verbirgt ihre Unaufrichtigkeit bis zum Schluss geschickt hinter der Empörung und rasch wird ihr Tête-à-tête mit Alfred als inszeniert zurechtgelogen, der die Erleichterung Eisensteins mit den Worten kommentiert: „War auch grad nicht alles so, / Wir wollen ihm den Glauben, / Der ihn beglückt, nicht rauben!“ Man wird eben nicht betrogen, man betrügt sich selbst.

Der Betrug dient unterschiedlichen Zwecken. Alle wollen bei Orlofsky ihr Inkognito wahren. Und doch ist immer auch der Wunsch dabei, eine an der Oberfläche glänzendere Rolle zu spielen als im allzu alltäglichen Leben. Adele versucht, ihrem Angestellten-Dasein zu entkommen und hat einen durchaus längerfristigen sozialen Statuswechsel im Blick. Die Hochstapeleien hingegen des Gefängnisdirektors und seines eigentlichen Insassen als französische Adlige erscheinen als temporäre Kläglichkeiten, die anderen zur Belustigung dienen. Dabei zählt Gabriel von Eisenstein ohnehin zum neureichen Geldadel. Er ist ›Privatier‹, also jemand, der sein Geld für sich arbeiten lässt und glaubt, sich einen Richterspruch richten zu können. „Sei im Besitze, und du wohnst im Recht“ ließ Friedrich Schiller einst seinen Wallenstein erkennen. Eisenstein, erkenntnisunfähig, verkörpert die selbstgerechte Arroganz einer Managementschickeria, der jegliches Unrechtsbewusstsein abhandengekommen ist. Er will sich amüsieren, kennt in Bezug auf sich selbst aber keinen Spaß. Aber erkennt auch nicht, wenn andere ihren Spaß mit ihm treiben. Darin besteht ein wesentliches Vergnügen der Revanche.

Die Masken des Sujets Dieses Vergnügen hat Johann Strauss’ Librettist und musikalischer Mitarbeiter Richard Genée nicht erfunden, sondern sich einer französischen Vorlage bedient, die wiederum ohne ein vorangegangenes deutsches Lustspiel nicht denkbar wäre: Die Fledermaus (1874) von Strauss & Genée ist die Weiterführung der Erfolgskomödie Le Réveillon (1872) der Bizet- und Offenbachlibrettisten Henri Meilhac und Ludovic Halévy, in der sich deutlich Versatzstücke von Roderich Benedix’ Das Gefängnis (1851) finden.

Roderich Benedix (1811 – 1873), ein viel gespielter Autor zu seiner Zeit, gibt mit dem Gefängnis nicht nur jenen Schauplatz vor, an dem dann Le Réveillon und Die Fledermaus enden werden, sondern auch das dramatische Element der Verhaftungsverwechslung von Liebhaber und Ehemann. Wenn auch raffiniert gebaut, endet das Stück, das im weiteren Verlauf gänzlich andere Handlungsabsichten verfolgt, mit hausbackener Läuterung, drei glücklichen Ehepaaren und dem Festschreiben einer bürgerlichen Moral des 19. Jahrhunderts. Le Réveillon und Die Fledermaus werden genau diese Moral als Scheinmoral entlarven. Gleichwohl: Ein geplanter Seitensprung, ein beständiges Kreisen ums Kapital (verlorenes, zu gewinnendes, zu erspielendes …!), ein Dürsten nach Champagner – all das setzt sich in das französische Vaudeville und danach in die Wiener Operette hinein fort.

Bei Henri Meilhac und Ludovic Halévy bekommt die Geschichte dann jene Gestalt und Struktur, wie sie aus der Fledermaus heute allgemein bekannt ist: Die Blamage als Rache für Blamage. Und ein Fest als zentraler Schauplatz, das dem Stück seinen Namen gibt: Eine Réveillon bezeichnet in Frankreich eine üppige Vorweihnachtsabendparty. Das entsprechende Zeitwort réveiller, im übertragenen Sinn ›reizen‹ oder ›aufmuntern‹, meint grundsätzlich ›aufwecken‹. Das entsprechende Hauptwort réveil bedeutet ›Aufwachen‹, was im Hinblick auf das böse Erwachen am Ende des Stücks nicht ganz ohne Hintersinn ist. Zu dieser Réveillon trifft bei Prinz Yermontoff eine kleine Herrenrunde zusammen: Der fädenziehende Notar Duparquet; der Hausbesitzer Gaillardin, der eigentlich seine Haftstrafe antreten sollte und sich als Marquis de Valangoujar ausgibt; der Gefängnisdirektor Tourillon, der sich Comte de Villebouzin nennt. Vier Aktricen hat man als erotischen Aufputz dazugeladen. Im Hintergrund spielt ein ungarisches Salonorchester – allerdings ohne seinen violinspielenden Dirigenten Alfred, der aus bekannten Gründen für Gaillardin im Gefängnis sitzt, nachdem er bei dessen Frau Fanny als ihr vermeintlicher Ehemann inhaftiert worden war.

Le Réveillon war in Paris ein enormer Erfolg, und einen solchen brauchte in diesen schlechten Zeiten dringend auch das Theater an der Wien. Man ließ die Komödie von Carl Haffner ins Deutsche übersetzen. Daraus schuf Richard Genée das Textbuch für Johann Strauss’ Operette Die Fledermaus. Gaillardin wurde zu Eisenstein, Fanny zu Rosalinde, Duparquet zu Falke, Yermontoff zu Orlofsky, Tourillon zu Frank, Léopold zu Frosch, Pernette erhielt als Adele den Namen einer der Réveillon-Aktricen und aus dem Geiger Alfred wurde der Sänger Alfred. Richard Genée übertrug die Handlung nicht einfach nur, er trieb Intrige und Aufwand noch viel weiter. Aus der intimen Festlichkeit bei Yermontoff wird ein großes Event bei Orlofsky, wo auch Rosalinde und Adele als Protagonisten in Falkes Spiel auftauchen, während in der französischen Vorlage Fanny und Pernette nach dem 1. Akt keine Rolle mehr spielen. Und es wird eine neue Maske eingeführt: Erlitt Duparquet seine Schmach in Le Réveillon noch im Kostüm eines schönen blauen Vogels, ereilte diese nun auf der Wiener Bühne Herrn Dr. Falke in der hässlichen Verkleidung der nachtaktiven, titelgebenden Fledermaus.

Die Masken der Zeit Die Fledermaus, am 5. April 1874 am Theater an der Wien uraufgeführt, beschwor die Dämonen der Nacht und besang gleichzeitig selig ihr Vergessen. Denn die Zeiten waren – wie immer, wie weiterhin, denn wann nicht? – Zeiten der Krise. Schon 1833 hatte Johann Nestroys in seiner Posse Der böse Geist Lumpazivagabundus den Schuster Knieriem, dem in seiner versoffenen Renitenz und Klarsichtigkeit der Gefängniswärter Frosch durchaus verwandt ist, bemerken lassen, „dass’s auf’n Ruin losgeht“. Weil der „Zauberer Luxus“ überall blendend hervorschaut und am Ende doch „die böse Fee Krida“ (= Konkurs) alles zusperrt, kommt er zu dem Schluss: „Die Welt steht auf kein’ Fall mehr lang.“ Doch trotz Krisen und Kriegen stand sie wackelig weiter, die Welt in Wien, und die Welt des Theaters spielte mal dagegen an und mal darüber hinweg. Kaum war die Revolution von 1848 zurückgedrängt, wurden jene Häuser, in denen der bissige Offenbach und der subversive Nestroy Erfolge feierten, ausgerechnet zur ersten Adresse jener, die selbstsüchtig ›das zarte Pflänzchen Aufschwung‹ im Herzen trugen: „Die Finanzwelt, der wohlhabende Mittelstand, die im Sonnenschein des volkswirthschaftlichen Aufschwungs sich pilzartig vermehrenden Parvenus der Börse und die üppig in die Halme schießende Halbwelt, welche alle ihren Luxus in der vanity fair der [Prater-]Hauptallee zur Schau stellten.“ (Illustrierte Zeitung, 21. Mai 1881)

Im Jahr 1873 herrschte dann plötzlich tatsächlich Weltuntergangsstimmung in der Kaiserstadt, obwohl man eigentlich in diesem Jahr mit der Weltausstellung hätte zeigen wollen, dass man hinter Metropolen wie London und Paris nicht zurückstand. Diese Weltausstellung am Pratergelände wurde am 1. Mai 1873 glanz- und hoffnungsvoll eröffnet. Aber bereits am 9. Mai war jener ›Schwarze Freitag‹ da, an dem die Wiener Börse vollkommen zusammenbrach. Da in das Anlegergeschäft nahezu alle sozialen Schichten involviert waren, war der ›Krach‹ vehement und nachhaltig bis in den entlegensten Winkel der Stadt zu spüren. Niemand musste da auf ein Schild „Jump! You fuckers!“ schreiben, das taten viele auch unaufgefordert. Die Selbstmordrate schnellte in die Höhe. Und mitten in der allgemeinen Depression fegte im Hochsommer noch eine Choleraepidemie durch die Donaumetropole und erstickte die ganze Walzerseligkeit endgültig in schwärzester Melancholie. War es so? Nicht ganz. Wie in der Sage vom lieben Augustin, dem das Musizieren in der Pestgrube das Leben gerettet haben soll, wurde auch nun weitermusiziert, weiter komponiert. Schon bisher hatte sich die rasante Entwicklung der modernen Welt quasi stenografisch in den Werktiteln der Gebrüder Strauss wiedergefunden – man denke nur an Johann Strauss’ Walzer Telegrafischen Depeschen und Von der Börse, an die Walzer seines Bruders Josef Transactionen und die vieldeutigen Fieberträume. Und nun entstand, als alle Welt die Augen vor dem Abgrund am liebsten fest verschloss, mit der Fledermaus – ungewollt, aber aus der Zeit geboren und gerade deshalb so treffsicher – ein schwungvolles Spiegelbild des Establishments als Exempel ewigen Nicht-Wahrhaben-Wollens. Die Fledermaus kommentiert die Zustände, indem sie sie zeigt. Ein lustvoller Akt der Selbstentlarvung.

Die Masken des Komponisten Johann Strauss Sohn war, als Die Fledermaus entstand, kein gesellschaftspolitischer Widerborst. Sein einstiges Sympathisieren mit der demokratischen Sache der Revolution hatte er, der mittlerweile das Kaiserhaus mit Widmungskompositionen bedachte, längst vergessen und verdrängt. Als Künstler agierte er, jedenfalls bewusst, nie in der Tradition des aufsässigen Hans Wurst und der scharfzüngigen Nestroy-Charaktere. Ihnen verwandt ist zwar der anarchistische Gefängniswärter Frosch, doch der ist eine nicht vom Komponisten geschaffene Bühnenfigur. Strauss selbst hatte seit 1848 nie mehr versucht, sich couragiert mit der Obrigkeit anzulegen. Den Gesellschaftskritiker Strauss gab es früh schon nicht mehr. Viel zu groß war das Interesse am Erfolg, auch am finanziellen.

Die „Firma Strauss“, angeführt von Mutter Anna Strauss (geborene Streim), zu der in unterschiedlichen Naheverhältnissen auch seine Brüder zählten, war bei aller musikalischen Genialität von Johann, bei aller Beseeltheit von Josef, bei aller Ambition von Eduard, ein Wirtschaftsunternehmen ersten Ranges. In der Walzer-›factory‹ wurde auf Hochtouren gearbeitet, es galt nicht nur, zu komponieren, sondern auch mit der Kapelle wirkungsvoll aufzutreten und Kasse zu machen. Eine sichere Bank waren die Konzertsommer in Pawlowsk, der Sommerresidenz der russischen Zarenfamilie, 30 Kilometer von St. Petersburg. Dorthin hatte man eine Eisenbahnlinie gebaut, die, um gewinnbringend genügend Fahrgäste zu befördern, eine Attraktion an ihrem Endbahnhof brauchte. Diese Attraktion hatte man von 1856 bis 1865 mit der Strauss-Kapelle gefunden, geleitet von Johann, der sich manchmal von Josef oder Eduard vertreten ließ. Alle drei Brüder brauchten einander, sorgten füreinander und waren doch gleichzeitig damit beschäftigt, sich gegenseitig auszustechen. Der Machtkampf, den Johann Strauss Sohn einst mit Johann Strauss Vater ausgetragen hatte, setzte sich hinter der geschwisterlichen Fassade fort. Es war im Innersten keine heile Welt dort, wo man mit den herrlichsten Melodien dem Publikum für Augenblicke eine heile Welt vorspielte.

Das Leben selbst ist keine Walzerseligkeit. Auch nicht das Leben des „Walzerkönigs“ Johann Strauss Sohn, der als Weltstar sein Publikum anstrahlte. Der „Schani“ (weil: Johann = Jean = Jeany) musste die Übermacht des nicht minder genialen Vaters niederringen. Unentwegt war er krank, fiebrig, angespannt, nervös. Er hatte Angst vor der Natur, vor schönem Wetter, vor dem Eisenbahnfahren, vor dem Tod. Er ging zu keinem Begräbnis: nicht zu dem seines Vaters, nicht zu dem seines Bruders Josef, nicht zu dem seiner Mutter, nicht zu dem seiner ersten Frau Jetty. Jetty, das war die um sieben Jahre ältere Sängerin Henriette von Treffz, die der Schani 1862 mit 39 Jahren heiratete. Sie war die Geliebte des Wiener Bankiers und Spekulanten Moritz Todesco gewesen, fortan die beste Managerin, die Strauss sich nur hatte wünschen können und forcierte mit Erfolg den Einstieg ihres Mannes ins Operettengeschäft. Aus der romantischen Pawlowsker Affäre mit Olga Smirnitskaja war nichts geworden, und die weniger romantischen sexuellen Verbaloffensiven gegen seine Schwägerin und die derben Anzüglichkeiten gegenüber seinem Verleger demaskieren ihn als Mann wie jeder Mann. Kennst Du mich? – so hatte Johann Strauss einmal einen Walzer aus Motiven seiner Operette Blindekuh genannt. Nach seiner Person gefragt soll er geantwortet haben: „Was geh ich mich an?“ Nach Jettys Tod im April 1878 folgte bereits im Mai die Hochzeit mit der um 25 Jahre jüngeren Sängerin Angelika (Lily) Dittrich, noch vor der Scheidung 1882 begann er ein Verhältnis mit der 31 Jahre jüngeren Adele Strauß (die junge Witwe des mit der Komponistenfamilie nicht verwandten Bankierssohns Anton Strauß), die er schließlich nur trickreich 1887 ehelichen konnte. Am 3. Juni 1899 starb Johann Strauss im 74. Lebensjahr und der Bildhauer Kaspar von Zumbusch nahm ihm die letzte, die Totenmaske ab.

Die Masken der Nachwelt Postum spielte Johann Strauss weiterhin eine große Rolle. Niemand aber hat ihn dabei so abgeschmackt überschminkt wie im vorigen Jahrhundert die Lügenmaschinerie des so genannten »3. Reiches«. Als Auftakt blies 1939 die nationalsozialistische Hetzschrift Der Stürmer zum Angriff auf Johann Strauss’ Stieftochter Alice Meyszner-Strauss, Tochter aus der ersten Ehe von Johann Strauss’ dritter, jüdischer Ehefrau Adele, geborene Deutsch: Das Erbe des großen »Deutschen« Johann Strauss in jüdischen Händen: daraus ließ sich von den Nazis im wahrsten Sinne des Wortes Kapital schlagen. Das Problem war nur: Mit der Arisierung des Strauss-Erbes alleine war es nicht getan, Johann Strauss selbst musste plötzlich heimlich arisiert werden! Denn im Trauungsbuch Nr. 60 der Jahre 1761/62 der Wiener Dompfarre zu St. Stephan fand sich anlässlich der Eheschließung des Urgroßvaters Johann Michael Strauss mit Rosalia Buschin der Vermerk, dieser sei „ein getauffter Jud“ …   Ein Aufführungsverbot für die Musik von Johann Strauss Sohn zu erlassen, wie man das schamlos mit dem Werk anderer »nicht-arischer« Komponisten getan hatte, wäre für den gesamten Musikbetrieb verheerend gewesen. Daher stellte man im Berliner Reichssippenamt 1941 eine Fälschung dieses Trauungsbuches her, in der man sich der unbequemen Eintragung entledigte. Das Original steht mittlerweile wieder an seinem Platz, die absurde ›arische Larve‹ von Johann Strauss hat den ihren im Abstellraum historischer Makulaturen gefunden.

Diese Begebenheit ist gut dokumentiert, bekannt und keine Neuigkeit. Und doch verdient sie heute, wo wieder besonderer Wert darauf gelegt wird, dass in Deutschland Deutsch gesprochen wird, besondere Aufmerksamkeit. Denn es muss nicht mehr alkoholgeschwängerte Mitternacht schlagen, bis die Wir-sind-eine-Welt-Maske vom Wir-sind-ein-Volk-Gesicht genommen wird, es zeigt sich nüchtern bei helllichtem Tag. Wie schön wäre es, wenn dann nur ein harmloses „Wimmerl auf der Nase“ zum Vorschein käme und nicht gleich die Fratze der Arroganz. Die Fledermaus,   d i e   Silvesterunterhaltung im Musiktheater, als bürgerlicher Stabilisierungsfaktor von den einen verachtet und von den anderen verlangt, feiert die bürgerliche Instabilität schlechthin. Die Zeit der Spieler und Spekulanten war nie vorbei, die Sorglosigkeit legt immer noch ihren durchschaubaren Schleier über die Ignoranz, die gemeinsam mit der Gier die ewige Wiederkehr der Krisen jeder Art garantiert. Freilich, es gibt auch die Lebensgier, und die wäre, für sich genommen, ja gar nicht so schlecht. Und doch ist die Lebensgier – „Ha, welch ein Fest, welche Nacht voll Freud’!“ – oft auch die Folge der Verzweiflung, nachdem die Geldgier einer ehrenwerten Gesellschaft ein entsetzliches Desaster angerichtet hat. Wenn die Heuschrecken alles kahlgefressen haben und die Vampire alles ausgesaugt, dann wird gefeiert ohne Rücksicht auf Verluste.

Die Fledermaus als belustigendes Zerrbild einer Krisengesellschaft und gleichzeitig als Kassenstück ersten Ranges: Diese Doppelfunktion hat das Werk über die letzten 135 Jahre nicht verloren. Es ist darin auch Ausdruck jenes naturgemäßen Widersinns der Verwobenheit von Kunst und Kapital. Vom ›Kunstmarkt‹ spricht man ja bezeichnender Weise in der Welt der Ateliers und Galerien. Gegen den Kunstmarkt des Musiktheaters hat Thomas Bernhard, ein Nachfolger Johann Nestroys auf seine ganz eigene Art, im Jahr 1976 in seiner Festspielkomödie Die Berühmten polemisiert, wenn er den ›Bassist‹ ausrufen lässt: „Die Sänger singen sich ihre Noten auf ihr Bankkonto / und die Instrumentalisten genauso / Aber es könnte sein dass die Gesellschaft / diesem Zustand / dieser perversen Vermögensbildung auf dem Konzertpodium / und auf dem Theater / dass die Gesellschaft diesem Spuk / über kurz oder lang / ein Ende macht / Ein Ende meine Damen und Herrn / ein plötzliches Ende / Die Kunst insgesamt ist heute / nichts anderes / als eine gigantische Gesellschaftsausbeutung / und sie hat mit Kunst so wenig zu tun / wie die Musiknoten mit den Banknoten / Die großen Opernhäuser wie die großen Theater / sind heute nur große Bankhäuser / auf welchen die sogenannten Künstler tagtäglich / gigantische Vermögen anhäufen (…) / Aber ein ungeheuerlicher Bankkrach / Also ein ungeheuerer Opernhäuserkrach und Theaterkrach / Steht unmittelbar bevor / Aber die sogenannten Protagonisten ahnen das / weil sie in Wirklichkeit nichts anderes als Spekulanten sind / und bringen ihre Schäfchen in trockene / Das Volk ist ein einziger aufgeblähter Dummkopf“.

© Oliver Binder, 2009 – Erschienen im Programmheft zur
›Fledermaus‹-Inszenierung von Christian Pade an der Staatsoper Unter den Linden Berlin (Bühne und Kostüme: Alexander Lintl) am 21. November 2009.

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