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Im Netz der Vermutungen.

Spurensuchen um und in Mieczysław Weinbergs Oper ›Der Idiot‹ (2013)

Es fließen ineinander Traum und Wachen,
Wahrheit und Lüge. Sicherheit ist nirgends.
Wir wissen nichts von Andern, nichts von uns.
Wir spielen immer, wer es weiß, ist klug.
(Arthur Schnitzler, ›Paracelsus‹)

Triebfedern des Schaffens Fürst Myschkin ist 26 Jahre alt. Man nennt ihn einen Idioten. Unter anderem, weil er jedem Menschen, offenbar arglos, mit entwaffnend freundlicher Ehrlichkeit begegnet. Mit seinem gutgläubigen Wesen sorgt der Fürst für erhebliche Irritationen, als er wie von einem fremden Stern in den Wahnsinn der Normalität einer korrupten und verlogenen Gesellschaft fällt. Deren waidwundes Opfer, Nastassja, will er retten. Von Mitleid getrieben und, wer weiß, vielleicht doch auch aus Liebe, jagt er sie nur umso gewisser in den Tod: Das ist Myschkins Tragik. Sein Erlösungswerk bleibt Utopie.

Ein ganzes Panorama widersprüchlicher Lebens- und Seelenwelten fächerte der russische Dichter Fjodor Dostojewskij (1821 – 1881) über gut neunhundert Seiten in seinem 1869 abgeschlossenen, personenreichen Roman Der Idiot auf. Aus ihm formte der 1919 im polnischen Warschau geborene und 1996 im russischen Moskau gestorbene Komponist jüdischer Abstammung Mieczysław Weinberg in den Jahren 1985/86 seine gleichnamige Oper. Der Musikwissenschaftler Alexander Medwedjew (1927 – 2010) – der auch die Libretti zu Weinbergs Opern Die Passagierin (1967/68), Die Madonna und der Soldat (1970/71) und Das Portrait (1980) verfasste – zog dafür die im Roman weit gesponnenen Handlungsstränge rund um den Fürsten konzise zusammen, ohne dabei die Vielschichtigkeit der einzelnen Charaktere aufzugeben. In einer reduzierten Fassung gelangte Weinbergs Idiot erstmals am 19. Dezember 1991 an der Moskauer Kammeroper auf die Bühne. Am 9. Mai 2013 präsentierte das Nationaltheater Mannheim die vollständige Uraufführung des Werkes.

Wann sich Weinberg zur Vertonung des Romans Der Idiot entschied, ist nicht dokumentiert. Er zählte Dostojewskij zu seinen Lieblingsdichtern und bezeichnete die Beziehung zu dessen Werk ganz allgemein als „natürlichen Stimulus für meine Arbeit“. Und er glaubte, wie er 1988/89 kurz vor der Auflösung der Sowjetunion in einem Interview mit der Zeitschrift Sovetskaja muzyka erläuterte, dass in Dostojewskijs Idiot „Themen behandelt worden sind, die die Künstler und die Gesellschaft immer erregen werden und dass die Werke der russischen Klassiker den Komponisten und Filmemachern auch in Zukunft kolossale und facettenreiche Möglichkeiten der Interpretation bieten werden – der Interpretation aus einer wahren, zeitgenössischen Perspektive.“ Das ist eine ebenso grundsätzliche wie unbestimmte Aussage, mit der keine konkrete Begründung der Stoffwahl verraten wird. Zu bemerken aber ist: Weinberg greift in Zeiten der (wenngleich schon morschen) Diktatur das Sujet einer rätselhaften Figur auf, deren Wahrheits- und Menschlichkeitsanspruch bewundert wird, die damit jedoch an der Realität zerschellt. Paradoxerweise verbirgt sich dieser Fürst Myschkin aber hinter seiner Aufrichtigkeit. Wenn er auch unverstellt ausspricht, was er denkt, legt er doch sein Seelenleben nicht zur Gänze offen – als ob er die Freiheit seines Innersten doch schützen müsste.

Eine gefährdete Existenz Dass die äußere Freiheit, das Leben selbst ein unentwegt bedrohtes Gut war, hatte Mieczysław Weinberg schmerzlich erfahren müssen. Dem Sohn des jüdischen, aus Russland stammenden und in Warschau wirkenden Theatermusikers Samuil Weinberg stand eine glänzende Pianistenkarriere bevor, als im Jahr 1939 das nationalsozialistische Deutschland mit dem Angriff auf Polen den Zweiten Weltkrieg begann, und die bereits begonnene Vernichtung der Juden auch ihn unmittelbar bedrohte. Dem Zwanzigjährigen gelang die Flucht in die weißrussische Hauptstadt Minsk, seine zurückbleibende Familie wurde umgebracht. In Minsk, wo Weinberg am Konservatorium Komposition studieren konnte, war die Lage aufgrund des Bündnisses zwischen Deutschland und Russland und der deshalb in der Stadt präsenten Wehrmachtsoffiziere weiterhin gefährlich. Als im Jahr 1941 Deutschland mit dem Überfall auf die Sowjetunion den bestehenden Nichtangriffspakt brach, brachte Weinberg sich nach Taschkent in Sicherheit. In der 4000 Kilometer entfernten Hauptstadt Usbekistans fand er Arbeit als Korrepetitor am dortigen Opernhaus. Seine erste Sinfonie erregte die Aufmerksamkeit von Dmitri Schostakowitsch (1906 – 1975), der – begeistert von Weinbergs Musik – dafür sorgte, dass der jüngere Kollege im Jahr 1943 seinen Wohnsitz in Moskau nehmen konnte. Zeitlebens blieben Schostakowitsch und Weinberg einander künstlerisch und freundschaftlich eng verbunden.

Als nach dem Zweiten Weltkrieg auch in der Sowjetunion der Antisemitismus in staatliche Säuberungsaktionen umzuschlagen begann und, einem signalhaften Auftakt gleich, Weinbergs Schwiegervater, der auch im Westen gefeierte jüdische Schauspieler und Theaterleiter Solomon Michoëls, auf Geheiß Stalins 1948 ermordet wurde, erzeigte Schostakowitsch der Familie sein Beileid. Und Schostakowitsch verwandte sich rückhaltlos für Weinberg, als man diesen 1953 offiziell wegen „jüdischem Nationalismus“ inhaftierte. Wahrscheinlich war ihm die Verwandtschaft zu Miron Wowsi, dem Onkel seiner ersten Frau, zum Verhängnis geworden, den man als Kopf einer mutmaßlichen Verschwörung von vorwiegend jüdischen Ärzten gegen Josef Stalin ansah. Weinberg verbrachte fast drei Monate in Gefangenschaft, deren Ende er wohl doch vor allem Stalins Tod am 5. März 1953 verdankte. Das Trauma, das Weinberg aus dieser Haft davontrug, ist nicht gering einzuschätzen. Hinzuzurechnen ist die grundsätzliche Einschüchterung von Komponisten durch das Regime, wenn ihre Musik – nach welchen Maßstäben auch immer – nicht einem volksnahen „sozialistischen Realismus“ entsprach. Mieczysław Weinberg wurde zwar nicht in solchem Ausmaß am pseudoästhetischen Gängelband geführt wie Dmitri Schostakowitsch, doch man konnte sich nie sicher sein, wie Gnade und Ungnade verteilt wurden. Der Versuch, die eigene Integrität zu bewahren, erforderte ein hohes Maß an Raffinesse. Weinbergs Freund Schostakowitsch wurde dabei zum Meister im Eingravieren unfügsamer Chiffren und im Verwirklichen eines hohen kompositorischen Ethos’ selbst in jener Musik, die staatlich repräsentativen Charakter zu haben schien.

Narrenmasken 1979 gab der Musikwissenschaftler Solomon Wolkow postum die von ihm aufgezeichneten Memoiren des Dmitri Schostakowitsch heraus, deren Authentizität wegen ihrer überraschend widerständig zutage tretenden Haltung des Komponisten zum Teil bis heute von jenen in Frage gestellt wird, die aus unterschiedlichen Gründen nicht vom Bild Schostakowitschs als regimetreuen Staatskünstler lassen wollen. Umgehend wurde damals ein öffentlicher Protest sowjetischer Komponisten gegen diese Publikation veröffentlicht, mit deren Inhalt diese gar nicht vertraut sein konnten. Einer der Unterzeichner war Mieczysław Weinberg. Per Skans, der 2007 viel zu früh verstorbene Weinberg-Kenner, kommentierte: „Von Schostakowitsch ist bekannt, dass er häufig vorgelegte Dokumente unterzeichnete, ohne sie vorher zu lesen. Vielleicht dürfen wir annehmen, dass Mieczysław Weinberg das Gleiche tat, im Gedanken daran, dass sein verstorbener Freund darüber nur geschmunzelt hätte?“ Solomon Wolkow skizzierte in den erwähnten Memoiren, was er in seinem Buch Stalin und Schostakowitsch (2004) genauer zu begründen unternahm: dass die Rolle, die Schostakowitsch für sich gefunden hatte, der eines modernen russischen Jurodivyj glich.

Die deutsche Übersetzung von Jurodivyj lautet meist „Gottesnarr“ oder „Narr in Christo“, was die Bedeutungsvielfalt des Wortes freilich nur im Ansatz treffen kann. Es leitet sich vom kirchenslawischen „urod“ („der Schwachsinnige“) ab, wird umgangssprachlich als Beiwort für „bescheuert, verrückt“ verwendet und meint als Hauptwort im religiösen Zusammenhang zunächst „einen Verrückten, der die Gabe der Prophetie besitzt“. Im Hinblick auf das Pauluswort des 1. Korintherbriefes „Wir sind Narren um Christi Willen“ achtete man die oft kindlich oder seltsam sich gebärdenden Jurodivye als Mahner und Künder von unbequemen Wahrheiten. Viele von ihnen verehrte man als Heilige. Im Narren erkannte man den Weisen. Neben den tatsächlich Geisteskranken gab es auch jene, die sich gewitzt hinter der unantastbaren Maske des Narrentums zu verbergen wussten. Freiwillig wählten sie ein Leben am Rand der Gesellschaft, um aus dieser Position heraus die Mächtigen und die herrschenden Zustände zu kritisieren. Wer ein geborener Jurodivyj war und wer sich aus eigenem Antrieb für dieses Dasein entschieden hatte, war oft nicht zu unterscheiden.

In seinem 1825 geschriebenen Drama Boris Godunow setzte Alexander Puschkin dem Typus des Jurodivyj, der selbst den Zaren mit der Wahrheit konfrontieren darf, ein nachhaltiges literarisches Denkmal. 1870 ließ Modest Mussorgski seine gleichnamige Oper mit den Worten des Jurodivyj enden: „Wehe Russland! Weine, russisches Volk, hungerndes Volk!“ Dem Dichter Puschkin und dem Komponisten Mussorgski geriet der Jurodivyj fast paradigmatisch zu einer Maske der Künstler selbst. Aus dieser Perspektive fällt auf Weinbergs vage Aussage, dass in Dostojewskijs Idiot „Themen behandelt worden sind, die die Künstler und die Gesellschaft immer erregen werden“, doch noch ein politisch relevantes Licht: Vielleicht ist sie andeutungsweise zu verstehen als Parteinahme für den Künstler als produktiven Querdenker und verstörenden Wahrheitssucher. „Wahrhaftig, Fürst“, sagt Rogoschin zu Myschkin im Roman wie in der Oper, „du bist ja ganz und gar ein Jurodivyj. Und solche hat Gott der Herr lieb!“

Mutmaßungen über Myschkin In Dostojewskijs Roman ist es aber nicht ein neutraler Erzähler, der den Fürsten Myschkin als Jurodivyj bezeichnet. Der Dichter legt diese Bezeichnung Rogoschin, einer anderen, durchaus zwielichtigen Figur in den Mund. Es lässt sich also nicht objektiv feststellen, dass Myschkin durch und durch ein Jurodivyj ist. Dostojewskij und in Folge Weinberg/Medwedjew spielen aber mit diesem Topos, in dem mitunter die Grenzen zwischen Einfalt und Berechnung verschwimmen. Auch wenn Myschkin ein kindliches Gemüt an den Tag legt, benennt er die Dinge mit einem erwachsenen Intellekt. Er ist nicht, wie mitunter behauptet wurde, ein moderner Parzival. Denn als Parzival sein Leben in die Hand nimmt, hat er keinen Begriff von der Welt. Myschkin aber begreift die Welt in weiten Teilen durchaus. Aber er ist – vergeblich – bemüht, dem Bösen darin keinen Platz einzuräumen. Durch seine Krankheit, die Epilepsie, wird er für Augenblicke in den Zustand großer Hellsichtigkeit versetzt. Fjodor Dostojewskij litt selber an Epilepsie und machte die Krankheit immer wieder zum Thema in seinem schriftstellerischen Werk. Sigmund Freud deutete sie in seinem 1928 veröffentlichten Aufsatz „Dostojewskij und die Vatertötung“ psychoanalytisch als Selbstbestrafung dafür, dass der Dichter den Tod seines unbarmherzigen Vaters gewünscht hätte. Aus dieser Fantasie wurde Realität, als Dostojewskijs Vater, vermutlich von leibeigenen Bauern, tatsächlich ermordet wurde.

In weiterer Folge beschreibt Sigmund Freud den epileptischen Anfall im weitesten Sinne als Mechanismus der Triebabfuhr. In diesem Zusammenhang verweist er auch darauf, dass schon „die ältesten Ärzte (...) den Koitus eine kleine Epilepsie“ nannten. Im Altertum galt die Epilepsie im Übrigen als „heilige Krankheit“ – das griechische Wort meint: „von etwas ergriffen sein“ – und als Zeichen der Auserwähltheit. Kulturgeschichtlich führen auch von da die Verbindungslinien zum russischen Jurodivyj und zu einer Figur wie Dostojewskijs Fürst Myschkin. Dieser aber ist kein Mahner, kein Ankläger. Seine übermäßige Sensibilität lässt ihn das Gute in jedem Menschen sehen. Mit dem, was er dabei als Wahrheit erkennt, konfrontiert und verstört er die Mitmenschen. Nur sich selbst und das, was ihn antreibt, versteht Myschkin, so scheint es, nicht in gleichem Maße. Er ist bestrebt, im reinsten Sinne christlich – mitleidend und demutsvoll – zu handeln. Dostojewskij selbst hat seinen Fürst Myschkin mit dem „Fürst Christus“ in Verbindung gebracht. Der Theologe und Tiefenpsychologe Eugen Drewermann stellt dazu fest: „Schlimmer als Der Idiot endet, kann ein Roman nicht enden: das Scheitern des Christus, nicht indem er gekreuzigt wird, sondern indem der Mensch [Nastassja] auf der Schlachtbank endet, der durch ihn gerettet werden soll!“

Dem von Dostojewskij deutlich hervorgehobenen Christusbezug messen Weinberg und Medwedjew keine ausdrückliche Bedeutung bei. Anders aber als der Roman, an dessen Ende Myschkin über dem Mord Rogoschins an Nastassja schließlich wirklich den Verstand verliert, schließt die Oper mit dem Ausdruck der größtmöglichen Radikalität christlicher Gnade: Der Fürst und der Mörder halten einander in den Armen. Was aber können Myschkin und Rogoschin auch anderes tun? Sind sie doch beide, so führt es Eugen Drewermann aus, „ein und derselbe: Sie tauschen das gleiche Kreuz, sie lieben die gleiche Frau, und sie werden schließlich beide am Katafalk ihres Sarges stehen, und auch Fürst Myschkin wird schuldig an ihrer Ermordung sein, weil er, statt die junge Aglaja zu lieben, die Frau retten wollte, die er im Grunde selber in seinem ›Bruder‹ Rogoschin bedrohte, er selber ein Beispiel der Unmöglichkeit menschlicher Erlösung im Zustand innerer Zerrissenheit.“ Das Schlussbild von Weinbergs Oper Der Idiot stellt mit einem Mal auf schrecklich berührende Weise die Einheit des gegensätzlichen Paares Myschkin und Rogoschin her. Die beiden Rivalen, der gescheiterte Erlöser und der verzweifelte Täter, verschmelzen neben der toten Nastassja in eisiger Stille.

Weinbergs Widmung Fürst Myschkin, der vermeintliche „Idiot“, ist kein strahlender Held, aber ein Widerstandskörper innerhalb festgefahrener gesellschaftlicher Konventionen. In welchem Grad er bewusst oder unbewusst handelt, bleibt ungewiss – und darin erscheint er tatsächlich als ein Narr im Sinne des zuvor skizzierten russischen Jurodivyj, dessen mögliche Scharfsichtigkeit geahndet würde, fände sie nicht Schutz hinter einer schwer zu durchschauenden Treuherzigkeit. Ob Mieczysław Weinberg den Künstler selbst meinte – als „Gottesnarren“, als Jurodivyj, als Wahrheitskünder, unbeirrbar auch im Scheitern dem Prinzip Hoffnung folgend – wenn er in Dostojewskijs Idiot Themen behandelt fand, „die die Künstler und die Gesellschaft immer erregen werden“?

Fest steht, dass Weinberg seinen Idiot schließlich jenem widmete, in dem Solomon Wolkow einen modernen Jurodivyj zu erkennen glaubt. Der Klavierauszug, der noch zu Lebzeiten des Komponisten im Jahr 1994 in der russischen Verlagsgesellschaft „Kompositor“ im Druck erschien, trägt auf der Seite des Stückbeginns die Zueignung „Im Angedenken an Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch“. Ob Weinberg seine Oper bereits in diesem Angedenken komponierte oder ob und warum er dieses erst nachträglich kenntlich machte, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht herausfinden. Weinbergs Widmung aber bestätigt in gewisser Weise die Sichtweise Wolkows von Schostakowitschs zeitweiliger Rolle als Jurodivyj. Und sie verweist umgekehrt auf Weinbergs mögliche Intention, seinen Idiot auch als verhüllte Hommage an die subversive utopische Kraft der Kunst zu verstehen.

© Oliver Binder, 2013 – Erschienen im Programmheft zur Uraufführung von Mieczysław Weinbergs ›Der Idiot‹ in der Inszenierung von Regula Gerber am Nationaltheater Mannheim (Bühne: Stefan Mayer, Kostüme: Falk Bauer) am 9. Mai 2013.

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