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„Lieben heißt Handeln“.

Ludwig van Beethovens ›Leonore‹ (2017)

Am 20. November 1805 hob sich in Wien erstmals der Vorhang zur Oper Leonore des knapp 35jährigen Ludwig van Beethoven. Im Publikum saßen vor allem französische Soldaten und Offiziere. Die Truppen Napoleons hatten sieben Tage zuvor die Habsburgermetropole besetzt. Nun waren viele von ihnen als platzfüllende Zuschauer ins Theater an der Wien geladen worden, weil Wiens Adel erst einmal das Weite gesucht hatte. Verständnislos folgten sie dort der Geschichte jener heldenhaften Frau, die unter dem Männernamen „Fidelio“ ihren willkürlich inhaftierten Gatten sucht, findet und befreit. Ort der Handlung ist ein spanisches Staatsgefängnis in der Nähe von Sevilla. Im Kern ist das Geschehen aber mit den Ereignissen der Französischen Revolution des Jahres 1789 und ihren so komplexen wie paradoxen Folgen verknüpft. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ hatte deren Parole gelautet. Die „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ war proklamiert und der Adel um seine Vormachtstellung gebracht worden. Rasch aber sollte der Traum von einer besseren Welt in Terror und Tyrannei kippen. Die Revolution fraß ihre eigenen Kinder. Am Ende trieb Napoleon die republikanische Idee mit imperialistischem Anspruch und militärischer Mission gewaltsam voran. Am 13. November 1805 erreichte die französische Armee Wien. Napoleon Bonaparte bezog Quartier im Schloss Schönbrunn. Und seine Soldaten mussten ausgerechnet Beethovens musiktheatralem Manifest in tyrannos lauschen, das seinen Ursprung in den französischen Revolutionswirren hatte.

Unter diesen Umständen ging der Abend ziemlich erfolglos über die Bühne. Leonore wurde nach nur zwei Wiederholungen vom Spielplan genommen. Dabei war Ludwig van Beethoven längst eine Größe im städtischen wie im europäischen Musikleben. Dreizehn Jahre zuvor war er aus Bonn am Rhein in das an der Donau gelegene Wien gezogen und hatte sich in dieser Zeit als Pianist und Komponist etabliert. Künstlerisch unbeugsam und mit großer Souveränität bewegte er sich auf dem Wiener Parkett. Es war ihm gelungen – als entschieden republikanisch gesinnten Bürger! – ein tragfähiges Netzwerk von adligen Gönnern zu knüpfen. Glück und Unglück lagen allerdings nahe beisammen. Sein beginnendes Gehörleiden stürzte den Anfangsdreißiger in tiefste Verzweiflung. Und vergebens, trotz so mancher Affäre, warb er um Frauen meist höheren Standes. In den Jahren 1804 und 1805 galt seine Leidenschaft der frisch verwitweten Gräfin Josephine Deym, geborene Brunsvik. Für sie komponierte er, während der Arbeit am zweiten Leonoren-Akt, das Lied „An die Hoffnung“. Die Zuneigung der Gräfin war zwar herzlich, ihre Zurückweisung aber unmissverständlich: „Das Vergnügen Ihres Umgangs, hätte der schönste Schmuck meines Lebens seyn können liebten Sie mich minder sinnlich – Daß ich diese Sinnliche Liebe, nicht befriedigen kann – zürnen Sie auf mich – Ich müßte heilige Bande verletzen, gäbe ich Ihrem Verlangen Gehör.“

Revolutionäre Ambivalenzen Musikalisch steht die Leonore im Umfeld der Klaviersonate in f-Moll („Appassionata“, 1804-1806), der Rasumowsky-Quartette (1806), des dritten Klavierkonzerts (1802/03), des Oratoriums Christus am Ölberg (1803) und vor allem der dritten Sinfonie (1802-1804). Unmissverständlich ließ Beethoven darin das Charakteristische im Tonfall, im Rhythmus und in der Melodik der Musik der Französischen Revolution widerhallen. Die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit waren ihm zeitlebens ein hohes Gut. Die epochale Entschlossenheit in dieser Sache verkörperte für ihn der Feldherr und Konsul Napoleon Bonaparte. „Bonaparte“ hieß deshalb zunächst auch die dritte, später als Eroica bezeichnete Sinfonie. Erst als Beethoven von Napoleons Absicht erfuhr, sich zum Kaiser der Franzosen krönen zu lassen, rasierte er dessen Namen auf dem Titelblatt des Partiturautografen heftig aus. Doch schon bald darauf notierte er mit Bleistift unter die ausgekratzte Stelle erneut die Worte: „geschrieben auf Bonaparte“. Der „unaufhebbaren Dialektik von Revolution und Terror, Revolutionskrieg und Imperialismus, Tugendherrschaft und Tyrannis“ (Carl Dahlhaus) schien sich Beethoven durchaus bewusst gewesen zu sein. Zeitlebens blieb er hin- und hergerissen zwischen der Bewunderung für und der Wut über Napoleon. Aus der Matrix der Eroica war seine Figur nicht mehr zu tilgen. Während er die dritte Sinfonie vollendete, begann Beethoven, sich mit dem Leonoren-Stoff zu beschäftigen: „Ich habe mir nun geschwind ein altes französisches Buch bearbeiten laßen“, schrieb er am 4. Januar 1804, „und fange jezt daran an zu arbeiten.“

Bei diesem „alten“ französischen Buch handelte es sich um Léonore ou L’amour conjugal (Leonore oder Die eheliche Liebe) von Jean Nicolas Bouilly. Die erste öffentliche Lesung hatte im April 1793 stattgefunden. Fünf Jahre später, am 19. Februar 1798, war das Stück mit den von Pierre Gaveaux vertonten Gesangsnummern erstmals in Paris aufgeführt worden. Später deutete Bouilly an, dass die Geschichte auf einer wahren Begebenheit aus der Zeit der konterrevolutionären Aufstände in der Provinz Vendée beruhen würde. Zudem wollte der Autor selbst als edler Beistand in ein solches Geschehen verwickelt gewesen sein. Als Parteigänger des revolutionären Terrors spielte er in dieser Zeit allerdings eine ehe doppelgesichtige Rolle. Die Ausführungen in Bouillys Memoiren über die Léonore als „wahre Geschichte“ halten, wie auch die daraus weitergesponnenen Ausschmückungen, keiner Überprüfung stand. Was freilich bleibt, ist der eigentliche historische Hintergrund des Settings. Damit ließe sich im Gefängnisgouverneur Dom Pizare (Don Pizarro) ein Vertreter des Revolutionsterrors erkennen, und in seinem von ihm willkürlich gefangen gesetzten Widersacher Florestan ein aufgeklärter Konterrevolutionär. Unabhängig aber von solchen Zuordnungen erzählt die Fabel ganz grundsätzlich vom Widerstand gegen Willkürherrschaft. Ihre Heldin Leonore ist bereit, dafür alles zu wagen. „Aimer, c’est agir“, lautete die letzte Tagebucheintragung von Victor Hugo, dem Dichter späterer Revolutionen: „Lieben heißt handeln.“

Für die deutsche Übersetzung und Einrichtung von Bouillys Léonore zeichnete Joseph Sonnleithner verantwortlich. Der Autor und Beamte war 1804 vorübergehend künstlerischer Direktor des Theaters an der Wien und hatte in dieser Funktion Mozarts Zauberflöten-Librettisten Emanuel Schikaneder abgelöst. (Dessen Römerdrama Vestas Feuer hatte Beethoven noch vor dem Leonoren-Stoff zu vertonen begonnen, die Arbeit daran aber bald wieder abgebrochen.) Bereits nach einem halben Jahr kehrte Schikaneder auf den Posten zurück. Sonnleithner hatte ihn wohl aufgrund der Spannungen über die Spielplangestaltung mit der Zensurbehörde wieder aufgegeben. Dass diese auch gegen die für Mitte Oktober 1805 geplante Uraufführung der Leonore Einspruch erhob, ist wenig verwunderlich. Naturgemäß musste in dem (schon vor der berüchtigten Metternich-Ära) als Polizeistaat ausgerichteten Österreich eine Geschichte als bedenklich eingestuft werden, deren Heldin gegen bestehende Machtverhältnisse revoltierte. Mit Beredsamkeit und Beziehungen erwirkte Sonnleithner, der inzwischen zum Hoftheatersekretär avanciert war, doch noch die Zustimmung der k.k. Polizei-Hofstelle. Zu welchen Zugeständnissen er und Beethoven über die rein äußerliche Zeitverlegung der Handlung ins 16. Jahrhundert hinaus noch bereit gewesen waren, ist nicht mehr zu eruieren. Der revolutionäre Kern des Musikdramas blieb geradezu modellhaft bestehen. Sein revolutionärer Klang stand ohnehin nicht zur Disposition.

Spannungsfelder Als die Uraufführung mit fast einmonatiger Verspätung dann doch stattfinden konnte, war der Abend jedoch als Fidelio angeschlagen. Beethoven selbst wählte diesen Titel ausdrücklich erst für die 1814 entstandene Umarbeitung. Vermutlich wollte das Theater an der Wien mit dieser Entscheidung Abstand zu einer anderen und beinahe zeitgleich entstandenen Vertonung des Stoffes wahren. Denn bereits Anfang Oktober 1804 war die ebenfalls auf Bouillys Textbuch basierende Oper Leonora ossia L’Amor conjugale von Fernando Paër in italienischer Sprache in Dresden über die Bühne gegangen. Unklar ist, ob Beethoven dieses Konkurrenzstück schon kannte, als er an seiner Leonore komponierte. Offenkundig ist nur, dass er sich vom Charakter der von Gaveaux für die Pariser Aufführung von 1798 vertonten Musiknummern hatte anregen lassen. Eine Begegnung mit Paërs Leonora lässt sich erst für 1806 nachweisen. Von ihr fand sich auch eine Partiturabschrift in Beethovens Nachlass.

Dass die erste so überaus kurze und kaum beachtete Vorstellungsserie der (als Fidelio angekündigten) Leonore als Misserfolg in die Operngeschichte einging, lässt sich nur zum Teil mit den als unkundig beschriebenen französischen Militärs im Saal erklären. Vielleicht war Beethovens Musik in ihrem mit dem Verlauf der Handlung zunehmenden revolutionären Gestus für manche Ohren auch schlicht noch zu anspruchsvoll. Schon die Ouvertüre für diesen Abend konnte in ihrer Kompromisslosigkeit die Hörerinnen und Hörer möglicherweise überfordert haben. (Fälschlicherweise hat man ihr von den insgesamt vier Leonoren-Ouvertüren die Nummer zwei zugewiesen, weil man jene, die Beethoven 1807 für eine in Prag geplante Aufführung komponierte, erst postum entdeckte und für die erste hielt.) Sie beginnt mit machtvoller Dunkelheit. Augenblicklich sinkt sie bedrohlich hinab, als ob sich der Abgrund in Florestans Verlies öffnen würde. Darauf verweist auch das aufkeimende Zitat von dessen Arie („In des Lebens Frühlingstagen / Ist das Glück von mir geflohn!“). Langsam, tastend und beinahe fragmentarisch wird der Versuch unternommen, wieder ins Licht vorzudringen. Nach einem ersten Triumph finden sich die Themen und Motive in einer Durchführung wieder, die in ihrer Vielstimmigkeit und Verästelung noch heute geradezu modern wirkt. Aus der Verunsicherung wird zornige Entschlossenheit. Zweimal erklingt das Trompetensignal, mit dem später die befreiende Ankunft des Ministers angekündigt wird. Erneut wird Florestans Arie anzitiert. Und nach einigem Zögern zieht sich das musikalische Geschehen zu einem bezwingenden Jubel zusammen.

Eine Herausforderung für das Publikum stellte auch die übrige Komposition dar, mit der Beethoven immerhin bereits über eineinhalb Jahre gerungen hatte. Selbst die immer wieder beschworene Singspielsphäre des ersten Aktes ist spannungsvoll aufgeladen. Denn von Anfang an ist die Gefängnisanlage der Ort des Geschehens. Ausgerechnet vor diesem Hintergrund erblüht Marzellines arios-erregtes Hoffen auf ein bürgerliches Liebesidyll. Ihr anschließendes Duett mit Jaquino ist kein unverbindliches Getändel, sondern ein ausgesprochener Konflikt. Und dieser schwelt weiter im folgenden Terzett („Ein Mann ist bald genommen“), in dem Rocco, wenngleich hochgestimmt-beschwingt, vor übereilten Heiratsentscheidungen warnt. Auch das zauberhaft von Violine und Violoncello umrankte Duett zwischen Marzelline und Leonore/ Fidelio („Um froh im Ehestand zu leben“) aus dem zweiten Akt lässt sich musikalisch noch diesem klassischen Tonfall zuordnen. Fast fühlt man sich an die Vertrautheit von Susanna und der Gräfin aus Mozarts Figaro erinnert. Doch Beethovens inniges Verschlingen der Stimmen ist trügerisch, weil Leonore, um an ihr Ziel zu gelangen, die von ihrem gemeinsamen Glück träumende Marzelline in falscher Hoffnung wiegen muss. Darüber hinaus steht diese zumindest musikalische Unschuld im Kontrast zum sich ankündigenden Verbrechen: Unmittelbar davor hat sich Pizarro zum Mord an Florestan entschieden und Rocco mit dem Ausheben des Grabes beauftragt.

Pizarro eröffnet nicht nur den zweiten Akt mit einer, auf einen herrschaftlich-kavalleristischen Marsch folgenden, mordlüsternen Rachearie. (Sein fanatischer Hass gegen Florestan scheint übrigens tiefer zu wurzeln als in der Wut über das Aufdecken seiner Machenschaften, denn er dürstet danach „den Mörder selbst zu morden“!) Pizarro beschließt diesen Akt auch – ohne die anderen Protagonistinnen und Protagonisten – mit einer weiteren martialischen Arie mit Chor („Auf euch nur will ich bauen“). Im dritten Akt bleibt die Spannung aufrecht bis zum Schluss. Zwar kündet kurz vor dem geplanten Mord an Florestan ein Trompetensignal von der Ankunft des Ministers, dem Pizarro nun entgegeneilt. Doch Rocco entwendet Leonore die Pistole, mit der sie Pizarro eben noch bedroht hat. Keiner weiß, was nun passiert. Ein nur langsames Begreifen führt Leonore und Florestan über ein gemeinsames Rezitativ („Ich kann mich noch nicht fassen“) an den Punkt, an dem sich beide endlich in den Duettjubel der „namenlosen Freude“ stürzen. Kein Szenenwechsel! Von außen ruft das Volk nach Rache. Und es ist unklar, ob diese Rufe nicht Florestan und Leonore gelten. Dann betritt der Minister, gefolgt von allen anderen, das Verlies. Leonore darf Florestan die Ketten abnehmen. Pizarro wird der Gerichtsbarkeit der königlichen Gerichtsbarkeit überantwortet. Der Schlussjubel übertönt alles bisher Erlittene.

Work in progress Schon zu Beginn des Jahres 1806 entschied sich Beethoven selbst zu einer Umarbeitung der Leonore. Vor allem die jüngsten Forschungen von Helga Lühning konnten aufklären, dass jene im Lauf der Zeit immer weiter ausgeschmückte Geschichte, wonach der sonst so unnachgiebige Komponist von Freunden und Bekannten unter Druck gesetzt worden wäre, gegen seinen Willen eine neue Fassung zu erarbeiten, im Grunde frei erfunden war. Die umgestaltete Wiederaufnahme fand bereits am 29. März 1806 ebenfalls im Theater an der Wien statt. Und sie hatte Erfolg. Vielleicht waren das Publikum und die Presse mit Beethovens Kühnheiten inzwischen auch vertrauter geworden. Trotzdem verschwand auch diese zweite Leonore nach kurzer Zeit wieder vom Spielplan. Diesmal allerdings hatte sich Beethoven aus finanziellen Gründen mit der Theaterleitung überworfen und das Stück wütend zurückgezogen. Acht Jahre später wandte sich dann die Direktion des k.k. Hoftheaters nächst dem Kärntnertore an ihn, um die Oper abermals neu herauszubringen. Gemeinsam mit dem Theatermann Georg Friedrich Treitschke formte Beethoven aus der einstigen Leonore nun den Fidelio, der am 23. Mai 1814 erstmals aufgeführt wurde.

Die sogenannte Urfassung der Leonore ist in ihrer originalen Gestalt heute nicht mehr greifbar. Es existiert kein reines und vollständiges Autograf von Beethovens Hand, keine autorisierte Druckfassung, kein Stimmensatz des Orchesters. Erst 1853 erstellte der Forscher Otto Jahn einen Klavierauszug. Bei dessen Ausarbeitung stützte er sich auf ein bis dahin umfangreich zusammengetragenes, aber verschiedenartiges Material. Es umfasst zahlreiche Skizzen Beethovens; von ihm korrigierte Kopistenabschriften; und Noten, in denen Änderungen für 1806 und 1814 eingetragen worden waren. Jahns verdienstvolle Pioniertat überarbeitete der Musikologe Erich Prieger, der im Jahr 1905 eine aus weiteren Erkenntnissen und Vermutungen gespeiste Partitur im Druck herausbrachte. Diese wiederum nahm der Beethovenforscher Willy Hess als Grundlage für seine 1967 herausgegebene Neuausgabe der Leonore von 1805. In dem von Beethoven für die späteren Fassungen oft vehement überarbeiteten Material ist allerdings oft nur schwer zu erkennen, welche der Änderungen bereits für die Version von 1805 galten. Deshalb stellt auch die von Hess angefertigte Partitur der „Ur-Leonore“ einen notwendigerweise mitunter auch auf Passagen von 1806 oder 1814 zurückgreifenden, gewissenhaft austarierten Rekonstruktionsversuch dar. Vor dreißig Jahren entdeckte man im Archiv des Nationaltheaters in Prag außerdem eine weitere Abschrift der Fassung von 1806. Darin sind immerhin jene Teile der Fassung von 1805 erhalten, die Beethoven in die erste Umarbeitung übernahm, dafür veränderte oder korrigierte. Es ist dies die einzige zusammenhängende Handschrift der beiden Frühfassungen. Doch auch aus ihr lässt sich die tatsächliche Erstfassung der Leonore nicht lückenlos erschließen.

Für jede der drei Fassungen seiner Oper sowie für eine geplante Aufführung in Prag komponierte Beethoven jeweils eine neue Ouvertüre. Wie schon die Leonore von 1806 war dann auch der Fidelio von 1814 nicht mehr in drei, sondern in zwei Akte unterteilt. Für diese dritte und letzte Fassung ließen Beethoven und sein Librettist Treitschke das Geschehen nun mit dem Duett von Jaquino und Marzelline („Jetzt, Schätzchen, jetzt sind wir allein“) beginnen. Marzellines Arie („O wär’ ich schon mir dir vereint“) reihten sie dahinter und strichen das Terzett mit Rocco („Ein Mann ist bald genommen“) ganz. Die weitere Reihenfolge blieb einschließlich des Duetts von Pizarro und Rocco („Jetzt, Alter, hat es Eile“) bestehen. Das Duett von Marzelline und Leonore („Um in der Ehe froh zu leben“) entfiel. Dafür setzte nahtlos Leonores große Szene mit gänzlich neuem Rezitativ („Abscheulicher!“) und modifiziert auskomponierter Arie („Komm, Hoffnung“) an. Im neuen Aktfinale wurde das kurze Rezitativ gestrichen, in dem Rocco die Gefangenen wieder zurück in ihre Zellen schickt. Es blieben nun alle Beteiligten auf der Bühne. Pizarros Arie mit Chor wurde durch ein groß angelegtes, völlig neues Schlusstableau („Leb wohl, du warmes Sonnenlicht“) ersetzt. Die Abfolge der ersten Szenen des vormals dritten Leonoren- und nun zweiten Fidelio-Aktes blieb gleich. Gestrichen wurde das dem Duett von Florestan und Leonore vorangegangene Rezitativ. Vor allem das Finale wurde in weiten Teilen neu aufgebaut. Ging die Oper 1805 noch im Kerker zu Ende, verlegte man das Geschehen 1814 auf einen öffentlichen Platz im Freien. Dafür entstand ein neuer Einleitungschor („Heil sei dem Tag“) mit einer Ansprache des Ministers. Kürzere Rezitative und Ensembles wurden gestrichen, das Ensemble „O Gott! O welch ein Augenblick!“ beinahe um die Hälfte gekürzt.

Neben diesen dramaturgischen Änderungen und Neukompositionen behielt Beethoven aber auch viele Nummern bei und revidierte sie in substanziell unterschiedlichem Ausmaß. Manches kürzte er, manches veränderte er im Melodieverlauf und/ oder in den Orchesterstimmen. Im Vergleich wirkt dadurch vieles ähnlich und doch anders. Manches komponierte Beethoven auch nur in Teilen neu. So ist Leonores große Szene im zweiten Akt in der Fassung von 1805 noch aus der vorangehenden Begegnung und dem Duett mit Marzelline motiviert. Deshalb kommt ihr Rezitativ „Ach, brich noch nicht, du mattes Herz“ aus einer eher aufgeregt-reflektierten Stimmung. 1814 wird diese im Hinblick auf Pizarros ahnbare Untat – „Abscheulicher! Wo eilst du hin?“ – viel aufgebrachter sein. Ihrer Arie „Komm, Hoffnung, lass den letzten Stern“ ist schon 1805 das Horn als „heroisches“ Soloinstrument begleitend beigegeben. Insgesamt jedoch verläuft sie noch weit ausgedehnter, über die Maßen reich an Koloraturen und mündete in eine schier nicht enden wollende Emphase. Für die Einführung Florestans im dritten Akt bereitet bis heute die zwar vielfältige, aber dennoch relativ fragmentarische Quellenlage Schwierigkeiten. Vor allem in Hinblick auf die Arie „In des Lebens Frühlingstagen“ musste viel Rekonstruktionsarbeit geleistet werden, die sich notgedrungen auch auf die späteren Fassungen stützt. Der noch resignative f-Moll-Teil „Ach, es waren schöne Tage“ – Beethoven ersetzte ihn 1814 durch die euphorische F-Dur-Vision „Und spür ich nicht linde, sanft säuselnde Luft“ – ist nur in der Fassung von 1806 überliefert.

© Oliver Binder, 2017 – Erschienen im Programmheft zur konzertanten Aufführung von Ludwig van Beethovens ›Leonore‹ (1805) mit dem Freiburger Barockorchester unter der musikalischen Leitung von René Jacobs am 5. November 2017 in der Kölner Philharmonie.

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