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Notizen aus Nestroys Welt.

Zum ›Mädl aus der Vorstadt‹ (2019)

Der Unbotmäßige „Jede Rose, an der Nestroy riecht, stinkt.“ So ungefähr urteilte der Tragödiendichter Friedrich Hebbel über den Komödiendichter Johann Nestroy (1801 – 1862). Hebbel war beleidigt. Er grollte unter anderem, weil Nestroy sein biblisches Drama Judith parodiert hatte. Die Parodie und die Posse – so nannte er selbst vorzugsweise seine Stücke – waren Nestroys Profession. Eine ihrer Wurzeln war das Wiener Volkstheater mit seiner notorisch aufsässigen „lustigen Person“, vom legendären Hanswurst bis zum Staberl. Doch das Widerständige war auf den Bühnen der Vorstadt zum Teil dem Empfindsamen und Zauberhaften gewichen. So begann man in Nestroy den Verräter an einer vermeintlich beschaulichen Tradition zu sehen. Man machte ihn verantwortlich für deren Verfall. Man zieh ihn einer „Poesie der Gemeinheit“. Zu respektlos erschien den einen sein Spiel, sein Stil, seine Sprache, sein Witz. Die anderen liebten ihn genau dafür. Mit seinem renitenten Humor war er ein Kind seiner Zeit: Des abgründigen „Biedermeier“. Des „Vormärz“. Der Jahre also vor jener Revolution, die im März 1848 europaweit an den bestehenden Herrschaftsverhältnissen rüttelte.

Diese Revolution war unterschiedlichen, mitunter sogar widersprüchlichen Freiheitsbestrebungen entsprungen. In Wien jagte sie Metternich in die Flucht. Den Kanzler des autoritären österreichischen Polizeistaats. Das Sinnbild der Unterdrückung. Nestroy verarbeitete diese Ereignisse in seiner Posse Freiheit in Krähwinkel. Freimütig wie nie zuvor ließ er seine Figuren nun Gedanken formulieren wie: „Die Zensur is das lebendige Geständnis der Großen, dass sie nur verdummte Sklaven treten, aber keine freien Völker regieren können.“ Mit der Zensur war Nestroy immer wieder in Konflikt geraten. Sie überwachte und regulierte den Theaterbetrieb. Nichts durfte an der öffentlichen Ordnung rütteln. Was nur im Entferntesten die Religion, den Staat und die Sexualität berührte, war tabu. Die Behörde strich und schrieb um. Um dem zuvorzukommen, entwickelte Nestroy eine findige Strategie der Vor- und Selbstzensur. So manche Textpassage unterschlug der Dichter, nur um sie als Schauspieler am Abend dann doch wieder unterzubringen. Durch Mimik und Gestik erhielten Harmlosigkeiten im Handumdrehen eine anzügliche Bedeutung. Man warf Nestroy vor, „wesentlich zur Entsittlichung des Wiener Volkes“ beizutragen. Um aktuelle (gesellschafts-)politische Anspielungen aus dem Stegreif – so genannte „Extempores“ – war er ohnehin nie verlegen. Dafür nahm er auch mehrtägige Arrest- und empfindliche Geldstrafen in Kauf.

Der Vielseitige Als Autor trat Johann Nestroy erst allmählich in Erscheinung. Zunächst begann er ein Jusstudium. Dann schlug er als seriöser Bass die Sängerlaufbahn ein. Sie führte ihn über Amsterdam, Brünn und Graz zurück nach Wien. Während dieser Engagements wurde er immer wieder auch als Schauspieler eingesetzt. Dabei entdeckte er sein komödiantisches Talent. Dann begann er, selbst Stücke zu schreiben. Diese waren zum Teil Bearbeitungen fremdsprachiger, meist französischer Komödien. Mit einer kunstvollen Mischung aus Hochsprache und Dialekt formte er sie zu neuen Originalen, durchtränkt von unvergleichlichen Wendungen und Wortschöpfungen. Stets ergriff Nestroy dabei Partei für die Anständigen und stellte die Unanständigen bloß. Das Publikum liebte ihn meistens. Manchmal pfiff es ihn auch aus. Triumph und Fiasko lagen nahe beieinander. Umstritten wie umworben prägte er gut dreißig Jahre lang als Dichter und Darsteller die vom legendären Direktor Carl geleiteten Theater an der Wien und in der Leopoldstadt. Letzteres übernahm er schließlich selbst und war damit selbst als Manager erfolgreich. Denn er beherrschte auch die Kunst, Aufgaben zu delegieren. Für die Verwaltungsgeschäfte war seine Lebensgefährtin, die Schauspielerin und Sängerin Marie Weiler, verantwortlich. Ein vertraulicher Polizeibericht bestätigt, dass gerade ihr ein „wesentlicher Anteil“ an der „guten Ökonomie“ des Carltheaters zuzuschreiben war.

Marie Weiler und Johann Nestroy hatten einander während ihres gemeinsamen Engagements in Graz kennengelernt. Dort wurden sie 1828 ein Paar. Kurz zuvor hatte Nestroys Frau Wilhelmine (geb. Nespiesni, mit der er seit gut vier Jahren verheiratet war und einen Sohn hatte) ihn für einen adligen Liebhaber verlassen. Vielleicht war diese Enttäuschung eine Ursache für sein wiederholtes „Räsonieren über‘n Eh‘stand“ (so nennt es Schnoferl im Mädl aus der Vorstadt). Marie Weiler, mit der er zwei weitere Kinder hatte, nannte er „die treue Freundin meiner Tage“. Umgekehrt nahm er es mit der Treue keineswegs genau. Seitensprünge erlaubte er sich selbst mit einer gewissen Unverschämtheit. Nicht nur auf Reisen. Neben seinen Wiener Engagements war Nestroy immer auf Tour. Er spielte seine Rollen auch in Prag, Hamburg oder Berlin. Zeitlebens ein Bühnentier, gelang es ihm am Ende auch noch, im allerneuesten Satireformat zu reüssieren: der in Paris von Jacques Offenbach erfundenen Operette. Seinen Ruhestand wollte Johann Nestroy nicht in Wien verbringen. Er erwarb ein Haus in Graz. Dort starb er im Alter von 61 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls.

Der Findige Johann Nestroys „Posse mit Gesang“ Das Mädl aus der Vorstadt wurde am 24. November 1841 im Theater an der Wien uraufgeführt. Der Dichter selbst spielte den Winkelagenten Schnoferl. Direktor Carl Carl trat als Spekulant Kauz auf. Marie Weiler stimmte als Rosalie mit ihrem Lebensgefährten das Quodlibet an (eine Parodie auf damals aktuelle Opernhighlights). Die Aufführung war von Anfang an ein großer Erfolg, das Publikum begeistert: „Hr. Nestroy hatte die Freude“, berichtete die Allgemeine Theaterzeitung, „von den unzähligen Bonmots, Wortspielen, Witzraketen, satyrischen Leuchtkugeln, auch nicht ein Körnchen auf unfruchtbaren Boden gesäet zu haben.“ Das Lachen entzündete sich offenbar vor allem am Wort und weniger am Geschehen. Dieses erinnert stark an die sentimentale Komödie Le Père de famille / Der Hausvater (1760) von Denis Diderot: Auch dort finden ein betuchter junger Mann und eine einfache Näherin dank der Vermittlung eines wohlmeinenden Freundes zueinander. Die unmittelbare Vorlage aber war ein damals aktueller Kassenschlager aus der französischen Hauptstadt: die am 13. Juli 1840 in Paris uraufgeführte Comédie-Vaudeville La Jolie Fille du faubourg / Das schöne Mädchen aus der Vorstadt von Paul de Kock und Charles-Victor Varin.

Johann Nestroy passte das Geschehen den damaligen Wiener Verhältnissen an und formte es in seiner eigenen Sprache aus. Aus den Pariser Grisetten wurden Näherinnen in der Wiener Vorstadt. Viele dieser schlecht bezahlten Arbeiterinnen besserten sich ihren Lebensunterhalt – vermutlich nicht immer freiwillig – mit der einen oder anderen Liebschaft auf. Die Grenzen zur Prostitution waren dabei fließend. Nestroy bildete diese Realität, wenn auch komödiantisch, im Mädl aus der Vorstadt auf der Bühne ab. Auch deshalb warfen manche Kritiker dem Stück vor, es streife „ziemlich hart an das Laszive“ und weise „manche Unziemlichkeit“ auf. Erotische Andeutungen verbarg der Autor einerseits in kulinarischen Bildern (Fasanen, Austern, Knödel, Geselchtes, Obst). Andererseits verlieh er dem Zweideutigen mit seinem Spiel eine ziemliche Eindeutigkeit. Wohl deshalb tadelte man seinen „Scherz“ als „zuweilen zu derb“. Das titelgebende Mädl, die Stickerin Thekla, zeichnete Nestroy allerdings als Bild der Unschuld. Auch die übrige Vorstadt-Mädlerie rückte er in kein wirklich schlechtes Licht. Dieses ließ er vielmehr auf den großsprecherischen Kauz mit seiner großbürgerlichen Doppelmoral fallen. Dessen Vorstadt-Eskapaden machen Das Mädl aus der Vorstadt auch zu einer Satire über die Heuchelei.

Der Menschenfreund Der verschlagene Geschäftsmann Kauz war in der französischen Vorlage von Paul de Kock und Charles-Victor Varin ein betrügerischer Bankier namens Pomponney. Aus dem dortigen Berufsadvokaten Durozel machte Nestroy einen Winkelagenten mit dem sprechenden Namen Schnoferl (Schnüffler). Winkelschreiber und Winkeladvokaten wurden im österreichischen Kaiserreich mit besonderem Argwohn von der geheimen Polizei beobachtet. Ohne Befugnis erstellten sie juristische Expertisen für private Klienten, die den offiziellen Behörden nicht trauten. Die Bezeichnung „Winkelagent“, mit der Nestroy seinen Schnoferl im Manuskript bedachte, mochte der Zensur daher als verdächtiger Begriff erscheinen. Ein staatlicher Spitzel war als Bühnenfigur ohnehin unstatthaft. Aber dem Auftreten eines privaten Agenten haftete etwas Subversives an, weil er außerhalb der bestehenden Ordnung agiert. So wurde Schnoferl am abendlichen Anschlagzettel sicherheitshalber nur „Agent“ genannt. Damit konnte einfach ein Vermittler und nicht unbedingt ein (verdeckter) Ermittler gemeint sein. Schnoferl ist freilich beides. Und er ist im abgehobenen Treiben der Hautevolee genauso zu Hause wie in der anrüchigen Welt der Vorstadt.

Ermittelt in der französischen Vorlage Durozel im offiziellen Auftrag seines zu Unrecht verdächtigten Mandanten, heftet Schnoferl sich aus eigenem Antrieb, tatkräftig unterstützt vom Zufall, der Gerechtigkeit auf die Spur. „Schnoferl ahnt ein Unrecht,“ schreibt Reinhard Urbach, „und das stachelt seinen Spürsinn an.“ Doch nachdem er Kauz des Betrugs überführt, ihm Geld für alle Geschädigten abgetrotzt und auch die Ehre des zu Unrecht verdächtigten Kassiers Stimmer (und damit von dessen Tochter Thekla) wiederhergestellt hat, ist der Fall für ihn erledigt: Kauz darf die Fassade des unbescholtenen Bürgers aufrecht erhalten und wird nicht, wie Pomponney in der französischen Vorlage, verhaftet. Eine ausgesprochen österreichische Lösung! Schnoferl erhält als Dank für diese Rücksichtnahme (auf ihren Onkel und damit auf die Familienehre) die Hand der von ihm lange schon begehrten Frau von Erbsenstein. Immerhin: Damit werden Standesunterschiede überwunden. Ob das die Liebe, das Geld oder die Ehre ermöglicht, sei dahingestellt. Die Liebe jedenfalls, zumindest das scheint sicher, überwindet den Standesunterschied zwischen dem komisch-sentimentalen Herrn von Gigl und Thekla, dem besonderen Mädchen aus der Vorstadt. Zweimal also finden „Oben“ und „Unten“ zusammen. Zwei Paare, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Ob das gut geht, erfahren wir nicht.

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