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Der Spott und die Trauer.

Helden, Playboys, Vatermörder: Jan Müller-Wielands ›Der Held der westlichen Welt‹ (2006)

Vom Ernst und vom Unernst Eine komische Oper hat Jan Müller-Wieland geschrieben und komponiert. Über einen Helden und die, die ihn zum Helden machen. Da wird geliebt und gemordet, erschlagen und ersehnt, verlassen und verfolgt, gealbert und gekreuzigt. „Ja, dürfen's denn das?!" hätte ein altösterreichischer Monarch gefragt. Denn das Erhabene und das Groteske, den Unfug und den Tiefsinn, die sieht man doch lieber sauber getrennt. Dann nämlich wären die Dinge leichter fassbar. Jedoch: Im Leben kennt man sich auch nicht immer aus. Und auf dem Theater erkennen wir im besten Falle das Leben wieder.

Der »Held« ist eine Spezies von höchst vielfältiger Ausprägung. Viele seiner Art existieren nur in Geschichten: Die Heroen des klassischen Altertums; die Ritter, Könige und Kaiser des Mittelalters; die Abenteurer der Romantik; die einsamen Cowboys der Leinwand; die Supermänner der Comics. Ihre Herkunft ist geheimnisvoll, sie müssen sich bewähren, verlieren durch Verrat, sterben oft jung. Ihre Taten übersteigen das durchschnittliche menschliche Maß. Sie zeichnen sich also aus. Oder werden ausgezeichnet. Sie tragen ein Merkmal des Besonderen und werden so zu Projektionsflächen für die Sehnsüchte des Alltags. Der wahre Held als Wunschtraum. Bei angespannter Bedürfnislage schafft sich die Öffentlichkeit ihre Helden auch selber. Doch für den kann der Fall tief sein. „Der Held, dem die Masse gestern zujubelte, wird morgen von ihr angespien, wenn das Schicksal ihn schlug. Je größer der Nimbus, umso heftiger der Rückschlag. Die Masse betrachtet den gefallenen Helden als ihresgleichen und rächt sich dafür, dass sie sich seiner Überlegenheit gebeugt hat, die sie nicht mehr anerkennt", schreibt der Begründer der Massenpsychologie Gustav Le Bon 1895, und: „Die Gläubigen zertrümmerten stets voll Wut die Bildwerke ihrer früheren Götter."

Wer in den Augen anderer tatsächlich Mutiges vollbringt, wird rasch zum Helden stilisiert. Moral und Charakter spielen dabei entweder gar keine oder eine besonders große Rolle. Das Sortiment ist bunt und uneinheitlich: Freiheitskämpfer und Feldherren, Märtyrer und Religionsführer, Diktatoren und Widerständler, Helden der Arbeit und Helden der Straße, Popstars und Sportidole. Fragwürdige Glorifizierung findet sich neben bescheidener Bewunderung. Jeder Held aber ruft unweigerlich seine Parodie herbei. Dem Pathos folgt immer die Satire, dem Heiligen der Spott. Es ist die reinigende und befreiende Funktion des uralten karnevalistischen Lachens. In seinem Essay Grundzüge der Lachkultur verweist der russische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin auf den universellen Charakter des mittelalterlichen Lachens. Dieses richte sich auf den gleichen Gegenstand wie der mittelalterliche Ernst: „Das Lachen spart das Hohe nicht nur nicht aus - es richtet sich sogar vornehmlich auf dieses Hohe. Es richtet sich überdies nicht auf Teile und Details, sondern auf das Ganze, das Allumfassende. Das Lachen baut sich gleichsam seine Gegenwelt gegen die offizielle Welt, seine Gegenkirche gegen die offizielle Kirche, seinen Gegenstaat gegen den offiziellen Staat. Das Lachen hält Liturgien ab, bekennt sein Credo, vermählt, trägt zu Grabe, schreibt Grabinschriften, wählt Könige und Bischöfe. Bezeichnenderweise ist selbst noch die kleinste mittelalterliche Parodie so aufgebaut, als wäre sie das Bruchstück einer ganzen und einigen Welt des Komischen."

Dieses Lachen begleitet auch den Typus des Helden. Der Literatur, der Bühne, dem Film bleibt es vorbehalten, ihn von seiner lächerlichen Seite zeigen zu dürfen. Von »Anti-Helden« spricht prosaisch die Wissenschaft. Dabei offenbaren oft die scheinbaren Narren großen menschlichen Weitblick, zeigen wahres und tiefes Empfinden. Der Don Quichotte des Miguel de Cervantes ist einer ihrer herausragenden Vertreter. Der phantasiebegabte Ritter gelangt zu weit größerer Reife als seine blasierten Widersacher. Auch Shakespeares Sir John Falstaff erreicht Einsichten, von denen sein König Heinrich IV. zunächst weit entfernt ist. Mit feiner, aber nachhaltiger Ironie durchwebt Thomas Mann seine Helden von Hans Castorp bis zum biblischen Joseph. Die so wunderbar widersprüchlichen Helden Bertolt Brechts werden umso moralischer, je unmoralischer sie in den Augen der anderen zu handeln scheinen. Die Mutter Courage oder der Armeleuterichter Azdak besitzen zudem vor allem eines: Humor. In solcher Nachfolge Brechts finden sich die Stücke George Taboris, Meisterwerke unheiliger Humanität, die allzugroßen Ernst mit entwaffnendem Witz erden.

Kein Wunder, dass gerade Bertolt Brecht ein großer Verehrer des irischen Dramatikers John Millington Synge war und dessen Schauspiel The Playboy of the Western World (1907) unbedingt auf der Bühne des Berliner Ensembles am Schiffbauerdamm aufgeführt wissen wollte. Denn weit weniger wird hier der so ganz unheldische Held aufs Korn genommen, als vielmehr die, die ihn zum Helden ausrufen. Brechts Sinn für hintergründigen Humor und die Dialektik der Moral entsprechen ganz der Anlage und dem Inhalt von Synges Stück: In einem Wirtshaus an der Westküste Irlands taucht ein junger Mann namens Christopher Mahon auf, der behauptet, seinen Vater erschlagen zu haben. Endlich einer, der sich was traut! Das Volk ist begeistert und die Wirtstocher verliebt sich. Doch dann betritt der schwer verletzte alte Mahon die Szene und nimmt seinen Sohn wieder mit. - Die Premiere am BE in der Übersetzung von Peter Hacks fand 1956 statt. Brechts Tochter Barbara und Ekkehard Schall, auch ein Paar im tatsächlichen Leben, sollten die Wirtstochter Pegeen Mike und den »Helden« Christy Mahon spielen. Der Regisseur Manfred Wekwerth und der Dramaturg Peter Palitzsch befanden Schall als zu „heldisch" von vorne herein und wollten die Rolle zierlicher besetzen. Brecht traute sich nicht, ohne Helene Weigels Einverständnis zuzustimmen. Und die wiederum ließ die verliebte Wunschbesetzung ihrer Tochter nicht antasten. Ekkehard Schall bekam von den Plänen Wind und war von der Idee selbst so überzeugt, dass er von der Rolle zurücktrat, die dann vom jungen Heinz Schubert (der später als »Ekel Alfred« Fernsehgeschichte schrieb) verkörpert wurde. Diese Anekdote korrigiert mit sympathischer Komik die Legende, es wäre Brechts ureigene Idee gewesen, Synges Helden mit einem Bürschchen zu besetzen.

Noch mehr Gegensätze Die deutschen Übersetzungen des Originaltitels von John Millington Synges Schauspiel The Playboy of the Western World geben mit Der Held der westlichen Welt (Hacks) oder Ein wahrer Held (Böll) nur gut gelungene Annäherungswerte wieder. Das Wort »playboy« ist die englische Entsprechung des gälischen-irischen „buachaill báire" (wörtlich: „boy of the game"), was soviel wie »Angeber, Lügner, Maulheld«, aber auch »toller Bursche, Draufgänger, ‚Star'« meint. In dieser schillernden Vielfalt steckt also die ganze Palette vom Angeber, Aufschneider, Charmeur, Dandy, Filou, Grandseigneur und Salonlöwe bis hin zum Außenseiter, Gaukler und Prahlhans. Ein Wort also, das zwischen positiver und negativer, ironischer und seriöser Bedeutung changiert. Auch das entspricht der grundsätzlichen Ambivalenz des Stückes zwischen Tragödie und Komödie. Diesem »sowohl - als auch« trägt zudem Jan Müller-Wieland in seiner Oper Rechnung, wenn er die Rolle des Helden für einen Sopran, für eine Frau komponiert: Ein männliches Idol als Hosenrolle. Mozarts Cherubino aus Le nozze di Figaro diente ausdrücklich als Vorbild. Und weil wir schon bei Mozart gelandet sind, sei noch an den aus der Malerei stammenden Begriff des »Chiaroscuro«, des »Hell-Dunkel« gedacht. Der nämlich verweist auf die Stückbezeichnung des Don Giovanni als »dramma giocoso« - und als »heiteres, ernstes Schauspiel« ließe sich auch Jan Müller-Wielands Held der westlichen Welt bezeichnen.

Auch der zweite Teil von Synges Stücktitel verweist mit der westlichen Welt auf einen Gegensatz. Doch diese western world bezeichnet bei ihm, also zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die Westküste Irlands. Genauer noch: den Nordwesten der Grafschaft Mayo. Da Irland von Osten aus durch die Engländer kolonialisiert wurde, bedeutete der irische Westen daher alles, was nicht englisch, nicht protestantisch, nicht industriell war. Es beschreibt also auch eine vor-moderne Lebenswelt, die Synge mehrfach bereist und lieben gelernt hatte. Die Erlebnisse dort und die alten Geschichten dieser Gegend hat er in seinem Buch The Aran-Islands (Die Aran-Inseln) eindrucksvoll festgehalten. Eine wahre Begebenheit aus dieser Region gab schließlich den Anstoß zu The Playboy of the Western World. Heute versehen wir einen Begriff wie »westliche Welt« geradezu mit gegenteiligen Attributen, denen des angeblichen Fortschritts: Technik, Industrie, Kapitalismus, die »Erste Welt« mit all ihren sozialen und asozialen Abgründen. Bedeutungen wandeln sich, keine Lesart ist auszuschließen. Das Verständnis und die Beurteilung von Worten und Begriffen unterliegen immer mehr oder weniger großen Wandlungen. Wir können zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der »westlichen Welt« nicht mehr das gleiche sehen wie John Millington Synge gut hundert Jahre zuvor.

Auch der Stoff selbst hat im Laufe der Zeit unterschiedliche Deutungen erfahren, wurde kontrovers aufgenommen. Hatte Synges Stück im Jahr seiner Uraufführung noch den Zorn der irischen Nationalisten und des Klerus heraufbeschworen, wandelte es sich nach seinem Tod zum Klassiker der irischen Theaterliteratur. So ergeht es den Dichtern, wenn sie erst einmal tot sind. Nicht uninteressant ist das Programmheftchen zur Aufführung des Berliner Ensembles 1956: Deutlich ideologisch wird da ein »westliches« Heldenideal von Mickey Spillane, Ernst Jünger oder John Wayne (sic!) den - im Übrigen namenlosen - Helden der Arbeit des Jahres 1955 gegenübergestellt. Eine ironische Hinterfragung des Heldenbegriffs, wie sie das Stück leistet und es auch in Brechts Sinn lag, findet in der kleinen Publikation nicht statt. Vielmehr verkürzt man die Botschaft auf eine Art anti-westliche Propaganda ganz im Sinne der damaligen DDR.

Annemarie und Heinrich Böll wiederum schienen kein primär politisches Interesse gehabt zu haben, als sie Synges Stück für das Kölner Schauspiel neu übersetzten (erstaufgeführt am 11. März 1960, Regie: Maurits Balfoort). Es ist Bölls fast schon wieder naive Liebe zu Irland und seinen Dichtern, wie sie sich in seinem Irischen Tagebuch widerspiegelt. Und doch, ganz harmlos ist die Angelegenheit nicht. Entspricht doch so manches in Synges Playboy den widerborstigen Konstanten in Heinrich Bölls eigenem Werk und Wesen: Sein steter Einsatz für die, die auf der Verliererseite des Lebens stehen, für die traurigen Clowns, denen eine engstirnige Gesellschaft keinen Raum lässt. Sein urchristliches Empfinden und Wirken inmitten eines beschränkenden, zutiefst katholischen Umfelds. Es hat wohl auch die latent rebellische Haltung in Synges Stück den sozial engagierten Katholiken Heinrich Böll inspiriert. Wie Synge versuchte man Böll zu Lebzeiten als Nestbeschmutzer anzukleckern, wie Synge dient Böll nun auch nach seinem Tod dem Schmuck und der Zier seiner Heimat. Zwei verwandte Seelen.

Die Macht der Familie In die Reihe der naturgemäß erst postum staatlich geehrten Künstler reiht sich auch der von Jan Müller-Wieland geschätzte österreichische Dichter Thomas Bernhard ein. Dessen Stücke sind meist schwarze Komödien, die umso komischer werden, je verbissener sich die Protagonisten in ihre Weltanklagen verrennen. In Bernhards Stück Am Ziel (1981), das von einer höchst vertrackten Mutter-Tochter-Beziehung erzählt, fällt lakonisch der Satz: „Wir entkommen nicht mein Kind". Die Familie holt uns immer ein, so weit können wir gar nicht davon laufen. Wir können versuchen uns durch Therapie, Flucht oder Mord von ihr zu lösen - die archetypischen Strukturen der Vater / Mutter / Kind - Dynamik trägt jeder von uns ein Leben lang in sich. Auch aus diesem Grund sind die großen Dramen im Kern immer Familiengeschichten. Auf eine dieser inzestuös zugespitzten Tragödien - die des Ödipus - scheint auch Synges Playboy of the Western World zu reflektieren. Zumindest durch den von Sigmund Freud in seiner Traumdeutung (1900) benannten „Ödipuskomplex" - das Begehren des Kindes, den eigenen Vater zu töten, resultiere aus dem Wunsch, mit der Mutter „sexuell zu verkehren" - hat man im Held der westlichen Welt gerne eine parodistische Ähnlichkeit zu der alten griechischen Sage gesehen. Der Held Christopher Mahon allerdings versucht vorsätzlich und dabei vergeblich seinen Vater zu erschlagen, während Ödipus gerade dieser Prophezeiung entfliehen will. Die Tragödie mag nicht gelingen.

Die Geschichte um das von Ödipus gelöste Rätsel der Sphinx (die Antwort lautet: Der Mensch) findet sich auch in Synges The Aran-Islands: „'Du wirst da drüben einen alten Mann finden', sagte er, der mit dir sprechen und dir Geschichten von den Elfen erzählen wird, aber er geht mit zwei Stöcken unter sich umher schon seit zehn Jahren. Hast du je gehört, was das ist, das auf vier Beinen geht, wenn es jung ist, und auf zwei Beinen danach und dann auf dreien, wenn es alt ist?' Ich sagte ihm die Lösung. ‚Oh, Herr', erwiderte er, ‚du bist aber ein Scharfsinniger, und Gottes Segen sei auf dir. Gut, ich bin auf drei Beinen jetzt, aber der alte Mann drüben ist wieder auf vieren. Ich weiß nicht, ob ich es besser habe als er - er hat seine Augen, und ich bin nur ein alter, blinder Mann.'"

Jan Müller-Wieland nimmt in seiner Oper vom Held der westlichen Welt nun ganz explizit Bezug auf Ödipus, auf das vergebliche Bestreben, seine Eltern zu überwinden, ein Eigener zu werden. Der Komponist selbst sieht dieses Werk auch als eine Art Satyrspiel zu seiner früheren Auseinandersetzung mit biblischen Stoffen wie Kain (1992) und König der Nacht (nach dem Buch Hiob, 2003). Bei allem Sinn für Nonsens aber, bei aller Neigung zum Unernst, flirrt sein Held doch durch elegische Welten. Er berührt, macht einen Lachen und erregt Mitgefühl. In dieser Spannung von Spott und Trauer schwebt seine komische Oper. Als der mittlerweile selbst in Irland ansässige Schriftsteller Felix Mitterer im Jahr 1999 Synges Playboy of the Western World in seinen heimatlichen Tiroler Dialekt übertrug (Der Held aus dem Westen) notierte er: „Je tragischer ein irisches Stück wird, um so komischer wird es gleichzeitig. Warum ist denen das Lachen nicht vergangen, fragt man sich. Die Antwort muss wohl lauten: weil Humor ein Überlebensmittel ist."

© Oliver Binder, 2006 / 2007- Erschienen im Programmheft zur Uraufführung von Jan Müller-Wielands ›Der Held der westlichen Welt‹ in der Inszenierung von Karoline Gruber an der Oper Köln (Bühne: Thilo Reuther, Kostüme: Henrike Bromber) am 7. April 2006.

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