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Die immerwährende Suche nach Erlösung.

Annäherungen an die Entstehung von Wagners ›Tristan und Isolde‹ (2009)

„Es is alles uralt, nur in anderer G’stalt!“
(Johann Nestroy, ›Kampl‹)

Stilisierung der Vergangenheit Tristan und Isolde: Einst rüttelte die Leidenschaft dieses Paares an den Grundfesten gesellschaftlicher Moralvorstellungen; der höfischen zunächst, dann der bürgerlichen. Heute ist ihre Geschichte zum bildungsbürgerlichen Grundbestand geronnen. Ein Jahrtausend fast ist die Fabel nun alt. In der Ausgestaltung durch Richard Wagner (1813 – 1883) stellt der Stoff – seine „Handlung in drei Aufzügen“ wird 1859 vollendet und 1865 uraufgeführt – einen gewichtigen und doch bisweilen auch etwas fragwürdig religiös, weil rauschhaft unreflektiert verehrten Markstein dar. Als Thomas Mann mit seiner 1903 erschienenen grotesken Novelle Tristan der Schwärmerei wagnerisierender Ästheten für das liebestodsüchtige Werk ein ironisches Denkmal setzte, gelang ihm damit ein famoser literarischer Akt der Bewunderung und Überwindung gleichzeitig. So geschieht es Idolen manchmal, zum Glück.

Auch Richard Wagner selber hatte zu seinen Vorbildern, zu seinen in früherer Zeit vorgebildeten Geschichten, ein ambivalentes Verhältnis, schwankend zwischen hingebungsvoller Zuwendung und arroganter Abgrenzung. In bewahrender Verehrung und anarchischem Zertrümmern entspringen viele seiner Werke einem verzweigten, bezugsreichen Spiel rund um das so genannte Mittelalter – und werden damit gleichzeitig selbst ein Teil dieses Spiels. Meist sind mittelhochdeutsche Dichtungen die Quellen seines dramatischen Schaffens. Tannhäuser, Lohengrin, Der Ring des Nibelungen, Tristan und Isolde, Parsifal: Sie alle gründen in der Epik und in der Lyrik einer vergangenen Epoche, in der nun, nachdem dieses mittlere Zeitalter zuvor noch als eines der heillosen Finsternis gegolten hatte, das 19. Jahrhundert – so nah’ wie weit! – plötzlich sein Heil suchte. „Einen Text als Quelle zu gebrauchen heißt dabei immer, ihn den Kriterien aktueller Brauchbarkeit anzupassen“, schreibt der Historiker Valentin Groebner in seiner 2008 erschienenen, erfreulich provokanten und hellsichtigen Bestandsaufnahme Das Mittelalter hört nicht auf. Jenseits der philologischen und historischen Wissenschaft erscheint »das« Mittelalter bis heute als ein Konstrukt, eine Welt aus Wille und Vorstellung, eine Projektionsfläche für Wünsche und Ängste nationaler wie emotionaler Impulse. Johann Wolfgang Goethe hat in seinem Faust die beachtenswerte Einsicht formuliert: „Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit / Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln. / Was ihr den Geist der Zeiten heißt, / Das ist im Grund der Herren eigner Geist, / In dem die Zeiten sich bespiegeln.“ Die Worte richtet der alte Faust an seinen Assistenten ausgerechnet des Namens Wagner.

Richard Wagner begann sich Mitte der 1840er Jahre eingehend mit den Autoren des Mittelalters und ihren Werken auseinanderzusetzen. Die um 1800 zunehmend positiv besetzte, politisch ebenso wie sentimental-romantisch motivierte Mittelalterrezeption bildete dabei den Nährboden, auf den nun fruchtbar sein Interesse fiel. Angeregt von den zeitgenössischen Mittelalterfantasien erforschte er ihre Wurzeln, um selbst neue Mittelalterbilder hervorzubringen. Von den ursprünglichen Geschichten fasziniert, hielt er gleichzeitig nicht viel von ihrer ursprünglichen Ausgestaltung. Während der Komposition des 3. Aufzuges von Tristan und Isolde schreibt er am 29./30. Mai 1859 an Mathilde Wesendock über Wolfram von Eschenbach und seinen Parzival: „Wolfram ist eine durchaus unreife Erscheinung, woran allerdings wohl grossentheils sein barbarisches, gänzlich confuses, zwischen dem alten Christenthum und der neueren Staatenwirthschaft schwebendes Zeitalter schuld. In dieser Zeit konnte nichts fertig werden; Tiefe des Dichters geht sogleich in wesenloser Phantasterei unter. (…) Wirklich, man muss nur einen solchen Stoff aus den ächten Zügen der Sage sich selbst so innig belebt haben, wie ich diess jetzt mit dieser Gralssage that, und dann einmal schnell übersehen, wie so ein Dichter, wie Wolfram, sich dasselbe darstellte (…) – um sogleich von der Unfähigkeit des Dichters schroff abgestossen zu werden. (Schon mit dem Gottfried v. Strassburg ging mir’s in Bezug auf Tristan so).“ Wagner fühlte sich angehalten, gleichsam neue, noch »ursprünglichere« Ursprünge zu schaffen, die von den Gralshütern vermeintlicher Werktreue bis heute teilweise als authentisch »mittelalterlich« angesehen werden. Vermutlich weil, im Zirkelschluss, ein solcherart »gefühltes« Mittelalter besondere Authentizität zu suggerieren scheint.

Deutliche Nachklänge Jeder Stoff, den Wagner sich anlas, im mittelhochdeutschen Original ebenso wie in neuhochdeutschen Übersetzungen, erfuhr durch ihn eine Metamorphose. Aus literarischen Versatzstücken des Mittelalters baute er sich kunstvoll seine eigene und, wie er glaubte, »richtige« mittelalterliche Welt. Er schuf dabei einen Kosmos, der in sich selbst immer wieder durch Bezüge und Verweise verbunden war: Lohengrin ist der Sohn Parsifals. Ein „Besuch des nach dem Gral umherirrenden Parzival an Tristans Siechbette“ war für den dritten Aufzug in Tristan und Isolde skizziert. Dem Tristan-Stoff und der Tristan-Komposition wird in den Meistersingern von Nürnberg – vor dem Tristan konzipiert, nach dem Tristan ausgeführt – mit leichter Ironie durch den Schusterpoeten Hans Sachs die Reverenz erwiesen: „Mein Kind: / von Tristan und Isolde / kenn ich ein traurig Stück: / Hans Sachs war klug, und wollte / nichts von Herrn Marke's Glück.“ In der Tat hatte der historische Hans Sachs (1494 – 1576) an der Schwelle zur so genannten Neuzeit ein Stück mit dem Titel Von der strengen lieb herr Tristrant mit der schönen königin Isalden verfasst (1553), das Wagner ebenso bekannt war wie Gottfried von Straßburgs Tristan-Roman vom Beginn des 13. Jahrhunderts. Seine eigene Fassung von Tristan und Isolde unterbricht die Ring-Komposition. Damit richtet er mitten in der Arbeit an dem umfassenden modernen Weltenmythos, diesem von den Liebesgeschichten Siegmunds und Sieglindes sowie Siegfrieds und Brünnhildes durchzogenen revolutionär-anarchistischen Politdrama, den Fokus beispielhaft radikal auf die Metaphysik der Liebe des Paares Tristan und Isolde.

Wagner stutzte dem mittelhochdeutschen Tristan-Stoff die Flügel, um ihn dann raketengleich in den Himmel zu schießen. Dort lässt er ihn strahlen, freilich weit weg. Indem von dem ungeheuer vielschichtigen und vielgeschichtigen Epos fast keine Handlung mehr übrig bleibt, scheint sich Wagner gerade mit Tristan und Isolde am weitesten von einem konkreten Mittelalterbild zu entfernen. Aus Gottfrieds Dichtung findet sich als tatsächlich übernommener Vorgang nur die Schiffsüberfahrt im ersten Aufzug wieder. Den zweiten Aufzug setzt Wagner aus verschiedenen Momenten heimlicher Begegnungen der Liebenden in der Vorlage zu einem gänzlich neuen Zustandsgefüge zusammen. Der dritte Aufzug schließlich weist nur noch Rudimente jener Geschichten auf, die Gottfrieds unvollendetes Werk fortsetzten. Und doch ist, bei aller Reduktion des Stoffes, Wagners Tristan und Isolde von Mittelalterlichem durchtränkt. Die Situation ist paradox: So sehr sich Wagner von der ihn faszinierenden mittelhochdeutschen Dichtung in seiner Neuschöpfung absetzen möchte, umso nachhaltiger setzt sie sich in diesem seinem scheinbar gänzlich originären Werk fest.

Als sein eigener Textdichter lehnt sich der Komponist mitunter durchaus an den von ihm eigentlich beargwöhnten Gottfried von Straßburg an. „O Wonne voller Tücke! / O Trug-geweihtes Glücke!“ (I/5) lässt Wagner seinen Tristan sagen und erinnert damit an das Spiel mit Oxymora im Prolog der mittelhochdeutschen Dichtung: „ein ander werlt die meine ich, / diu samet in eime herzen treit / ir süeze sûr, ir liebez leit, / ir herzeliep, ir senede nôt, / ir liebez leben, ir leiden tôt, / ir lieben tôt, ir leidez leben.“ (V. 58 – 64). Und Gottfrieds „Tristan und Îsôt, ir und ich, / wir zwei sîn iemer beide / ein dinc âne underscheide“ (V. 18352 – 18354) wird bei Wagner zu Isoldens „Du Isolde / Tristan ich, nicht mehr Isolde“ und Tristans „Du Tristan, / Isolde ich, / nicht mehr Tristan!“ (II/2) Auch das Sprach- und Sinnspiel mit dem Liebes- bzw. Todestrank findet Wagner bei seinem mittelalterlichen Kollegen deutlich vorformuliert: „ouwê Tristan und Îsôt“, lautet dort die Liebestrank-Klage, „diz tranc ist iuwer beider tôt!“ (V. 11705/06). Und schließlich ist der 2. Aufzug durch zahlreiche Elemente des ›Tagelieds‹ strukturiert, jener Form der mittelhochdeutschen Lyrik, in welcher der Abschied der sich unerlaubt Liebenden am Morgen nach einer gemeinsam verbrachten Liebesnacht geschildert wird. Oft wird ein solcher Dialog von den Warnrufen eines Wächters durchsetzt. Der helle Tag als Ungeheuer – kaum jemand hat ihn um 1200 eindrucksvoller geschildert als der Dichter des Parzival, Wolfram von Eschenbach: „Sîne klâwen / durch die wolken sint geslagen, / er stîget ûf mit grôzer kraft: / ich sich in grâwen / tegelîch, als er will tagen“.

Romantische Befindlichkeit Der Tag, das Ungeheuer; die Nacht, der einzige die Liebe bergende Lebensraum: Diese Entwürfe waren Wagner bekannt, noch ehe er die mittelhochdeutsche Literatur zu erforschen begonnen hatte. Im Jahr 1800 war mit den Hymnen an die Nacht von Friedrich von Hardenberg (1772 – 1801), der sich Novalis nannte, eines der komplexesten Sprachkunstwerke seiner Zeit erschienen. Novalis war tonangebend in der frühromantisch-utopistischen Mittelalterrezeption. In seinem Fragment gebliebenen Roman Heinrich von Ofterdingen (1802) machte er den Lyriker aus dem 13. Jahrhundert, der vor allem als fiktive Figur in der umfangreichen Sammlung vom Wartburgkrieg eine wichtige Rolle spielt, zum märchenhaften Dichterhelden, dem die Liebe als wichtigste Provinz des „romantischen Morgenlandes“ der Poesie erschlossen wird. Aus dieser unvollendeten Erzählung bezog Richard Wagner wesentliche Anregungen zu seinem Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg.

In Tristan und Isolde – „Frau Minne will: Es werde Nacht“! – zog nun Novalis’ sinnlich-sakraler Sprachgestus ein. Das Liebespaar als „Nacht-Geweihte“, das des „Todes Nacht liebend erschaut“, voll von „Sehnen hin zur heil’gen Nacht, wo urewig, einzig wahr Liebeswonne ihm lacht“, das die „ewg’e Nacht, süße Nacht“ und die „hehr erhabne Liebesnacht“ bereits lustvoll gleichsetzt mit Auflösung und Tod, mit Liebestod: All das sind Sprachspuren aus dem Geflecht von Nachtbegeisterung, Liebesvereinigung, Todesbereitschaft und christlicher Heilserwartung, wie es Novalis in seinen Hymnen ausbreitet. „Muss immer der Morgen wiederkommen? (…) Wird nie der Liebe geheimes Opfer ewig brennen?“, fragt er in der zweiten Hymne. „Heiliger Schlaf“, fordert er dort, „beglücke zu selten nicht der Nacht Geweihte in diesem irdischen Tagewerk“, und lässt die fünfte Hymne lyrisch-emphatisch mit den Versen enden: „Die Lieb' ist frey gegeben, / Und keine Trennung mehr. / Es wogt das volle Leben / Wie ein unendlich Meer. / Nur Eine Nacht der Wonne – / Ein ewiges Gedicht – / Und unser aller Sonne / Ist Gottes Angesicht.“

Lag da was in der Luft? Novalis’ Hymnen an die Nacht erschienen 1800 in der August-Ausgabe der von den Brüdern Friedrich und August Wilhelm von Schlegel herausgegebenen Zeitschrift Athenäum. Friedrich von Schlegel hatte 1799, also fast gleichzeitig, seinen für die damalige Zeit »experimentellen« Roman Lucinde herausgebracht. Von Zeitgenossen zwar als unsittlich, verwerflich und literarisch formlos geschmäht, war die Fortwirkung dieses romanhaften, gewitzt religiös grundierten Liebesdiskurses dennoch nicht aufzuhalten. Mit feiner Ironie durchsetzt wird hier ein literarischer Akkord aus den Tönen von Erotik und Religiosität, Liebe und Tod, Nacht und Heiligkeit, Geschlechtlichkeit und Mystizismus angeschlagen, der deutlich auch noch bei Richard Wagner vieles zum Klingen gebracht hat.

Es ist viel »Tristaneskes« in Schlegels Lucinde vorgebildet: Die erhabene Hymne auf die Vereinigung von Körpern und von Geist, liebender Identitätstausch, Verschmelzung von Ich und Du, Erlösung und Befriedigung, die Tag-Nacht-Fantasien: „Nur in der Ruhe der Nacht, sagte Lucinde, glüht und glänzt die Sehnsucht und die Liebe hell und voll wie diese herrliche Sonne. – Und am Tage, erwiderte Julius, schimmert das Glück der Liebe blass, so wie der Mond nur sparsam leuchtet. (…) Nur in der Nacht eröffnet sich die Blume schüchtern und atmet frei den schönsten Duft, um Geist und Sinne in gleicher Wonne zu berauschen. Nur in der Nacht, Lucinde, strömet tiefe Liebesglut und kühne Rede göttlich von den Lippen, die im Geräusch der Tage ihr süßes Heiligtum mit zartem Stolz verschließen. (…) Doch endlich wird des Tages fruchtlos Sehnen, eitles Blenden sinken und erlöschen, und eine große Liebesnacht sich ewig ruhig fühlen.“ Schlegel allerdings ist ein Freigeist. Während Wagner später seine Protagonisten Tristan, Isolde und Marke auch an einem Konflikt mit gesellschaftlichen Normen zerschellen lässt, also gleichsam mit einem Tabu im Rücken schreibt, interessiert Schlegel in der Lucinde kein Tabu, kein Konflikt. Schlegel kümmert sich nicht um die ›Sitte‹. Seine Liebe ist zwar durchaus nachttrunken, aber grundsätzlich weltbejahend. Das unterscheidet ihn von Novalis wie von Wagner. Denn diese beiden sind ironiefrei und vor allem: todernst. So wie August von Platen, der 1825 sein Gedicht Tristan mit den Zeilen beginnen lässt: „Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, / Ist dem Tode schon anheimgegeben“ und mit den Worten endet: „Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, / Ach, er möchte wie ein Quell versiechen!“

Philosophische Knetmasse Gottfried, Hans Sachs, Novalis, Schlegel, Platen: Die Vorlagen, Vorbilder, Einflüsse und Impulse sind offensichtlich. Und doch fehlen ausgerechnet im Falle von Tristan und Isolde die Hinweise auf diese Ursprünge, ganz im Gegensatz zu seinen anderen Werken, von Wagners eigener Hand. Einen jedoch nennt er mehrfach und nachdrücklich, der ihm nun weltanschaulich zum Wegweiser werden sollte. An Emilie Ritter schreibt Wagner am 29. Dezember 1854: „Noch ein andres hat jetzt höchst wohlthätig und entscheidend auf mich gewirkt: die Bekanntschaft mit dem Werke des grössten Philosophen unsrer Zeit: Arthur Schopenhauer. Alles, was in mir bereits voll und fertig war, ja, was ich eigentlich in meiner Wodans-Dichtung schon bestimmt dargestellt habe, hat dieser klare, tiefe und gewaltige Geist mir vollends zum sichren Bewusstsein gebracht: die einzig mögliche Erlösung durch die ernsteste Entsagung. Liess jenes Werk: es heisst die Welt als Wille und Vorstellung.“ Im Hinblick auf Wotan („Nur Eines will ich noch: Das Ende!“) und infolge auf das Ende des Nibelungen-Rings ist dieses begeisterte Sich-erkannt-Fühlen gut nachvollziehbar. Es verblüfft allerdings jedes Mal aufs Neue, dass das Werk Schopenhauers ausgerechnet für Tristan und Isolde besondere Bedeutung erlangen sollte. Das war nur möglich durch eine „dilettantische wie kühne Umdeutung“ (Hartmut Reinhardt).

Wagner war ein gebildeter und kluger Kopf und doch in letzter Konsequenz ein Meister des Ungefähren. Er war in seinen theoretischen Schriften ein scharfer Denker (Oper und Drama) ebenso wie ein ärgerlicher Schwätzer (Das Judenthum in der Musik). Er war fähig zu klarsichtigen Reflexionen und empfänglich für sentimentale, „erste“ Stimmungen. Bei Schopenhauer fühlte er sich nicht nur in seinem Leiden an der Welt erkannt, sondern in dessen Auffassung, dass die Welt als Wille sich gerade in der Musik adäquat abbilde und der Pessimismus durch die Musik hindurch auf höhere Weise aufgehoben werde könne. Wieder hatte Wagner eine Projektionsfläche gefunden und fühlte sich selbst erhoben in der Stilisierung von Schopenhauers Kunstanschauung. Der für Schopenhauer aber letztlich erlösende Moment ist, weil die unerträgliche Welt zunächst nur Vorstellung ist, die unserem Willen entspringt, die Verneinung dieses Willens. Dabei führt der Weg nicht in den Selbstmord, sondern in die Resignation, in das Aufhören des Wollens, wie es im Leben des Asketen sichtbar wird, der freiwillig auf die Befriedigung seiner Triebe verzichtet. In erster Linie gilt das für die Befriedigung des Geschlechtstriebes, der für Schopenhauer die höchste Bejahung des Willens darstellt.

Nichts lag nun Richard Wagner ferner, als auf Sexualität zu verzichten! Und so formt er in Tristan und Isolde das Schopenhauersche Programm um. Die körperliche Vereinigung bleibt ihm das höchste Glück, das sich allerdings nur in einem Reich der Nacht, des Todes, des Nichts erfüllen kann. Aus der Willens-Verneinung des Philosophen wird die Welt-Negation des Musikdramatikers: Das Paar Tristan und Isolde nimmt die äußere Welt des Tages einfach nicht mehr zur Kenntnis, um einzig in seiner inneren Welt der Nacht zu existieren. Die Auflösung der Wirklichkeit führt in letzter Konsequenz zur Auflösung der Geschichte selbst. Der so genannte ›Liebestod‹ Isoldes ist großartig gefühltes Ungefähres, lusterfüllter Nihilismus. Richard Wagner blieb letzten Endes selbst in seinem intimsten Werk durch das entschiedene Ignorieren der Realität noch Anarchist.

Wege und Nebenwege Eine Welt nach seiner Vorstellung durch seinen Willen zu schaffen, dieser Gedanke musste Richard Wagner faszinieren. Beständig war er bestrebt, die Wirklichkeit aufzulösen, die Realitäten zu ändern, die Gegebenheiten nicht zur Kenntnis zu nehmen. Mit dem Anarchisten Michail Bakunin war er ebenso befreundet wie mit dem Republikaner August Röckel. Die frühsozialistischen Schriften des Philosophen Ludwig Feuerbach bestimmten sein Denken ebenso wie die von Pierre-Joseph Proudhon („Eigentum ist Diebstahl“!). Er verfasste selbst revolutionäre Aufsätze, nahm aktiv 1849 am Dresdner Mai-Aufstand teil, wurde steckbrieflich gesucht, floh 1850 nach Zürich und kehrte erst 1862 wieder nach Deutschland zurück. In die Zeit seines politischen Asyls entstehen: Die Komposition des Rings des Nibelungen bis zum 2. Aufzug des Siegfried. Die Konzeption und Vollendung von Tristan und Isolde zwischen 1857 und 1859. Die Dichtung der Meistersinger von Nürnberg.

In die Zeit zwischen der ersten konkreten Idee zu Tristan und Isolde im Herbst 1854 bis zur Uraufführung in München 1865 fallen dann die folgenden Ereignisse: Ein von Wagner missbilligter Dramenentwurf Karl Ritters nach Gottfrieds Tristan-Roman. Die erste Schopenhauer-Lektüre. Die zunehmende Entfremdung von seiner Frau Minna. Die Leidenschaft für Mathilde Wesendonck, Gattin des Kaufmanns Otto Wesendonck in Zürich. Die erste Begegnung mit Franz Liszts Tochter Cosima in Paris. Das Zusammentreffen von Minna Wagner, Mathilde Wesendonck und der mit dem Dirigenten Hans von Bülow verheirateten Cosima in Zürich während Wagner aus Siegfried vorspielt. („Die Frauen sind beeindruckt“, notiert Martin Gregor-Dellin, „Cosima, um ihr Urteil befragt, weint.“) Die tatsächlichen und gewünschten Affären mit der Frankfurter Schauspielerin Friedrike Meyer und der Mainzer Notartochter Mathilde Maier. Der Zusammenschluss mit Cosima von Bülow („Unter Tränen und Schluchzen besiegelten wir das Bekenntnis, uns gegenseitig anzugehören“, 28.11.1863). Der Beginn einer hypertrophen ›Beziehung‹ zu seinem Mäzen Ludwig II., König von Bayern. Die Geburt von Richard Wagners und Cosima von Bülows erstem Kind am Tag der ersten Orchesterprobe von Tristan und Isolde, die Hans von Bülow leitet, der offiziell als Vater des Mädchens gilt, das den Namen Isolde trägt.

Mathilde Wesendonck: Ihr Name wird gemeinhin vor allem mit der Entstehung von Tristan und Isolde in Verbindung gebracht. In Richard Wagner aber war längst eine Disposition für dieses Werk vorhanden. Die heftige Liebe, die ihn zu Mathilde ergriffen hatte, war Beweggrund, nicht Urgrund. Diese sich vor allem in Beteuerungen ergießende Leidenschaft war gemeinsam mit der Schopenhauer-Lektüre und – nicht zu vergessen! – dem Wunsch, rasch ein die Existenz sicherndes kassenfüllendes Stück zu schreiben, ein auslösendes Moment. In seinem Leben spiegelte sich wieder einmal fast passgenau ein künstlerisches Vorhaben, das am Ende in seiner dichterisch-musikalischen Ausgestaltung die im Verhältnis kleinen biografischen Bezüge weit übersteigt. Dennoch kommt der ›Affäre Wesendonck‹ eine wesentliche Bedeutung zu, weil in ihr mehr kulminiert als die sentimentalen Begebenheiten rund um eine unerfüllte Leidenschaft. Musikalisch schlug sich diese sehnsuchtsvolle Gespanntheit in Wagners Vertonung von fünf Gedichten Mathildes nieder (Wesendonck-Lieder), die er selbst als „Studien zu Tristan“ bezeichnete. Inhaltlich spielen aber auch zwei wichtige Nebenfiguren als „geschädigte Dritte“ (Martin Gregor-Dellin) in der Leben und Werk vermengenden Geschichte mit: Minna Wagner, die existenziell an ihren Mann gebunden ist und zunehmend an dessen Ignoranz zerbricht. Und Otto Wesendonck, der als Mäzen die Wagners finanziell aushält und ihnen sogar ein Haus unmittelbar neben der Villa in Zürich zur Verfügung stellt. Was sich zunehmend zur Farce auswuchs zerbrach, noch ehe die Ehe der Wesendoncks allzu großen Schaden nehmen konnte. Die Ehe der Wagners blieb unrettbar und doch bestehen. Und die nächste Ehe, nämlich die von Cosima und Hans von Bülow, bot sich fast nahtlos bereits als nächste Spielwiese für die musterhafte Wiederholung einer Dreiecksgeschichte à la Tristan, Isolde und König Marke an.

Sprengversuche Es besteht ein bedeutsamer Unterschied zwischen den kleinen großbürgerlichen Skandalgeschichten rund um die Familien Wagner, Wesendonck und Bülow und Wagners eigenem großen Entwurf von der Absolutheit innerer Welten in Tristan und Isolde. Während die biografischen Bezüge mitunter fast boulevardeske Züge tragen, wirft das Musikdrama weit ausholend die Anerkennung jeglicher Institution über Bord. Darin besteht eine wesentliche Relevanz. Durch die Umwälzungen der Französischen Revolution und ihrer Folgen in ganz Europa waren die bisher nach Außen hin Stabilität garantierenden Gefüge weggebrochen oder zumindest stark ins Wanken geraten. Im Gegenzug erhielten im 19. Jahrhundert die Institutionen von Ehe und Familie zunehmend fast staatstragendes Gewicht. Mit Liebe hatte das weiterhin und immer weniger zu tun. Auch große Denker wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel sahen die Leidenschaft innerhalb einer Beziehung eher als Gefahr denn als tragfähige Basis an.

Selbst und ausgerechnet der sonst auf Wagner so wirkungsmächtige Anarchietheoretiker Pierre-Joseph Proudhon hielt am Konzept einer unauflöslichen patriarchalischen Ehe fest, hielt Keuschheit für würdevoller als Sinnlichkeit und die Arbeit für mehr wert als das Vergnügen. Für Proudhon, schreibt die Historikerin Michelle Perrot, „war die Familie die lebende Zelle eines privaten Organismus, der die Sphäre des Öffentlichen absorbieren und den Staat überwinden sollte.“ Die Fassaden intakten Familienlebens wurden allseits eifrig hochgezogen. Starre Konvention und verlogene Etikette, die einst der enthaupteten Aristokratie angelastet wurde, fraßen sich in den gespielten Idyllen der Bürgerlichkeit fest. Wagners Entwurf von der Überlegenheit des eigenen Gefühls war angelegt auf das Infragestellen und letztlich Sprengen von Vernunftehen, die rund um ihn das Maß angaben. Wagner setzte sein Maß kategorisch anders. Die absolute Vormachtstellung, die er dem inneren vor dem äußeren Leben in Tristan und Isolde einräumte, führte zur Auflösung aller Grenzen, auch der musikalischen. Alle Haltlosigkeit ebenso wie unendliches Ineinanderfließen fanden Ausdruck in einer bis anhin unerhörten Tonsprache.

Schon in Gottfried von Straßburgs mittelalterlichem Tristan-Roman löst der Liebestrank nur aus, was lediglich durch ein kompliziertes System von Lehensherrschaft und Vasallentreue unterdrückt war. Auch bei Richard Wagner ist der Trank eine Chiffre. Dass Tristan, angestachelt von seinem Freund Melot, für seinen Onkel und König Marke mit Isolde die Frau zur Gattin gewinnt, die er selbst liebt; dass Isolde mit Tristan den Mann liebt, der ihren Verlobten Morold erschlagen hat: Das sind die äußeren Fesseln der „Sitte“, die diese Leidenschaft in Banden legen. Die Brautfahrt auf dem Schiff wird zum Opferritus. Die inneren Fesseln sind ein Nicht-Aussprechen, ein bleiernes Schweigen, ein Tabu. Das Drama nimmt seinen Lauf auch aus dem Unglück der Sprachlosigkeit heraus. „Des Schweigens Herrin / heißt mich schweigen: / fass ich, was sie verschwieg, / verschweig ich, was sie nicht fasst“ (I/5): Alle Leidenschaft liegt klar zu Tage. Aber ein Erkennen, sich und einander, ist für Richard Wagner nur in einem unbegreiflichen Reich der Nacht möglich, an dem die äußere Welt keinen Anteil haben darf. Bricht diese äußere Welt dennoch in die innere ein, dann bleiben nur noch Leere und Auflösung zurück. Der Liebestod als Implosion.

© Oliver Binder, 2009 – Erschienen im Programmheft zur ›Tristan und Isolde‹-Inszenierung von David Pountney an der Oper Köln (Bühne: Robert Israel, Kostüme: Marie-Jeanne Lecca) am 22. März 2009.

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