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… ohne dabei zu sehr von Frömmigkeit hingerissen zu sein.

Ein Streifzug durch die Schichten von Wagners ›Tannhäuser‹ (2008)

Vom Unvermögen, zu verweilen „Ich bin ein erbeitsælic man, / der niene kann belîben / wan hiute hie, morne anderswan. – Ich bin ein leidgeprüfter Mann, / der nirgendwo bleiben kann / nur heute hier, morgen wo anders.“ So erzählt von sich selber der Dichtersänger Tannhäuser in der Mitte des 13. Jahrhunderts. „Sol ich daz iemer trîben?“ – fragt er – „Soll ich immerfort so leben?“ Die schemenhaft erkennbare historische Figur, die Gestalt der vielen Legenden und Erzählungen bis ins Zeitalter der »Romantik«, schließlich der Titelheld von Wagners großer romantischer Oper: Der Tannhäuser erscheint oft als Flüchtling und Unbehauster. Auf der Suche nach Liebe taumelt er von Begierde zu Genuss. Er zieht durch Welten, Zeiten und Zustände. Er findet sich in seinem Heute wieder und gleichzeitig im Gestern der Antike. Von tiefer Religiosität gepackt, zieht ihn zugleich das Ewig-Weibliche hinan, das ihn, der immer strebend sich bemüht, am Ende doch erlöst. Es ist nicht mehr als ein Zufall, und doch merkt man auf: Goethes Faust trägt wie Wagners Tannhäuser den Namen Heinrich. Gretchen graut’s vor ihm. Elisabeth fragt: „Was tatet Ihr mir an?“ Faust, als Greis, zu dem Tannhäuser nicht wird, blickt zurück: „Ich bin nur durch die Welt gerannt; / Ein jed’ Gelüst ergriff ich bei den Haaren, / Was nicht genügte, ließ ich fahren, / Was mir entwischte, ließ ich ziehn. / Ich habe nur begehrt und nur vollbracht / Und abermals gewünscht und so mit Macht / Mein Leben durchgestürmt“.

Richard Wagners Tannhäuser ist kein Faust, doch eine faustische Existenz in mancherlei Hinsicht. Es sind keine Äußerungen des Komponisten überliefert, in denen er die beiden Figuren zueinander in Beziehung setzt. Doch wir wissen um seine große Bewunderung und tiefe Kenntnis von Goethes zweiteiliger Tragödie. Schon früh (1831) hat er sich im Lied mit Sieben Kompositionen zu Goethes Faust versucht. In den Jahren 1839/40 entsteht eine Faust-Ouvertüre. Nach der Arbeit am Tannhäuser unterlegt Wagner im Jahr 1846 eine Aufführung von Beethovens 9. Sinfonie mit einem Programm, für welches ihm „Hauptstellen des Goethe’schen Faust eine über Alles wirksame Hülfe leisteten.“ Faust erscheint als wichtiger Bezugspunkt in seiner Schrift Oper und Drama (1851/52). Und immer wieder erfährt man aus Cosima Wagners Tagebüchern von eingehenden Erörterungen der Dichtung. Es lässt sich gut vorstellen, dass die Affinität des jungen Wagner zur Faust-Gestalt auch in der Rastlosigkeit seines Wesens begründet lag. „Ich wanderte in weiter, weiter Fern’ – / da, wo ich nimmer Rast noch Ruhe fand“, lässt er Tannhäuser sagen. „Mein Weg heißt mich nur vorwärts eilen, / und nimmer darf ich rückwärts sehn.“ In seinem New-York-Roman Stadt aus Glas (1985) beschreibt der amerikanische Autor Paul Auster einen verwandten Zustand: „Durch das ziellose Wandern wurden alle Orte gleich, und es war nicht mehr so wichtig, wo er sich befand. Auf seinen besten Gängen vermochte er zu fühlen, dass er nirgends war. Und das war letzten Endes alles, was er je verlangte: nirgends zu sein.“

Wenn auch Tannhäuser nicht »nirgends« sein möchte, so zumindest doch nicht an dem Ort, an dem er gerade verweilt. Im Reich der Liebesgöttin Venus, das auch ein Reich der Mütter ist, ist um ihn kein Ort, noch weniger eine Zeit. Tage, Monde gibt’s für ihn nicht mehr. Doch wenn die Venuswelt versinkt, bleibt Tannhäuser, „der seine Stellung nicht verlassen“ hat, am selben Ort. Die Welt um ihn ändert sich. In der verwandelten Umgebung will er aber weiterhin nur eines: Fort. Im beständig unsteten Durchmessen der Welt gleicht Tannhäuser dem Holländer, dem Wanderer Wotan, irgendwie auch der Kundry – und in ihnen spiegelt und bespiegelte sich ihr Schöpfer Richard Wagner. Geboren am 22. Mai 1813 in Leipzig, erlebt er die Kindheit in seiner Heimatstadt, in Dresden, in Eisleben, in Prag. Sein Kapellmeisterdasein führt ihn dann von Würzburg über Bad Lauchstädt und Magdeburg nach Riga. Nie reicht das Geld. 1839 flieht Wagner vor den Gläubigern über London nach Paris. 1842 kehrt er zurück nach Dresden. Dort entsteht bis 1844/45 Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg. Dort schließt er Freundschaft mit dem Republikaner August Röckel und dem Anarchisten Michail Bakunin. Dort verfasst er revolutionäre Aufsätze, nimmt 1849 am Dresdner Mai-Aufstand teil, wird steckbrieflich gesucht, flieht 1850 nach Zürich und kehrt erst 1862 wieder nach Deutschland zurück. An keinem Ort schlägt er Wurzeln. 1864 übersiedelt er nach München, 1866 nach Tribschen bei Luzern. 1872 wählt er Bayreuth als endgültigen Wohnsitz. Richard Wagner stirbt auf Reisen, in Venedig, am 13. Februar 1883.

Wagners Weg ins Mittelalter Inmitten der Flucht vor Gläubigern oder der Polizei gab es immer wieder Versuche, innezuhalten, an einem Ort anzukommen. Dazu gesellte sich noch die Flucht von Frau zu Frau. Am Ende fand Richard Wagner in Cosima von Bülow, der Tochter Franz Liszts und Gattin des Dirigenten Hans von Bülow, einen ihm ergebenen Lebensmenschen. Davor hatten die tatsächlichen und gewünschten Affären mit der Schauspielerin Friedrike Meyer, der Notartochter Mathilde Maier, der Kaufmannsgattin Mathilde Wesendonck und zuvor der Kaufmannsgattin Jessie Laussot seine Ehe mit der Schauspielerin Minna Planer nicht zur Ruhe kommen lassen. Minna war an seiner Seite, als er nach Paris floh. Mit Minna reiste er 1842 nach Dresden. Hier wird 1842 Rienzi uraufgeführt. Hier wird 1843 Der fliegende Holländer uraufgeführt und Wagner zum Königlich Sächsischen Hofkapellmeister ernannt. Hier entsteht nun der Tannhäuser, der 1845 zur Uraufführung gebracht wird. Hier schließt Wagner im Revolutionsjahr 1848 den Lohengrin ab. Er hatte das Mittelalter als Projektionsfläche für seine künstlerischen Vorstellungen entdeckt. Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg steht am Anfang dieser Entwicklung. Der Anblick der Wartburg bei Eisenach auf der Reise von Paris nach Dresden im April 1842 soll den Anstoß gegeben haben. Und während eines Aufenthaltes in Teplitz-Schönau im Juni des Jahres besuchte Richard Wagner Aussig (das tschechische Ústí nad Labem), durchstreifte in einer Vollmondnacht die Burgruine Schreckenstein und begann, von all dem inspiriert, noch in Aussig mit dem Prosaentwurf zum Tannhäuser unter dem Titel Der Venusberg.

Richard Wagners Tannhäuser ist ein Konglomerat aus verschiedenen Schichten unterschiedlicher Stoffkreise. Die Rührung des nach Deutschland heimkehrenden Komponisten und sein »romantisch« stilisiertes Aussig-Erlebnis markieren nur den äußerlichen Anlass der Entstehung des Werks. Wagner hatte in Paris Heinrich Heine kennengelernt und von ihm nicht nur die Anregung zum Fliegenden Holländer empfangen, sondern in dessen Essay Elementargeister auch Bekanntschaft mit jener im späten Mittelalter entstandenen Ballade von Tannhäuser, Venus und dem Papst gemacht, die bereits in der von Achim von Arnim und Clemens Brentano herausgegebenen Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn publiziert worden war. Heinrich Heine stellt an das Ende der Betrachtungen über die Elementargeister seine eigene satirische Tannhäuser-Version. In der Tannhäuser/ Venus-Stofftradition steht auch Ludwig Tiecks Novelle Der getreue Eckhart und der Tannhäuser (1812/1817).

Der andere Sagenkreis ist jener des Sängerwettstreites auf der Wartburg. Dort gibt es zwar keinen Tannhäuser, dafür aber einen Heinrich von Ofterdingen. Dass diese beiden historischen »Minnesänger« möglicherweise ein und dieselbe Person gewesen wären, erwog im Jahr 1838 der Gelehrte C.T.L. Lucas. Und Richard Wagner nahm diese These dankbar auf. Allerdings hatte bereits drei Jahre zuvor Ludwig Bechstein den Sagenschatz und die Sagenkreise des Thüringerlandes herausgegeben und dort ebenfalls Tannhäuser- und Sängerkrieg-Fabel einander nahe gerückt. Wagner verschweigt diese Quelle, obwohl er sie gekannt haben muss. Natürlich kannte er das Romanfragment Heinrich von Ofterdingen von Novalis (1802). Der Abschnitt über die „Meistersänger auf der Wartburg“ aus E.T.A. Hoffmanns Serapionsbrüdern (1819), wo sich Heinrich von Ofterdingen und Wolfframb von Eschinbach jeweils die Gunst der Gräfin Mathilde zu ersingen versuchen, hatte Wagner vermutlich zu allererst mit dieser Geschichte bekannt gemacht.

Die Wurzeln von E.T.A. Hoffmanns Erzählung liegen im so genannten Wartburgkrieg, einem Komplex von mehreren Dichtungen des 13. bis 15. Jahrhunderts, der aus verschiedenen fingierten Sängerstreitgedichten besteht. Schauplatz dieser Auseinandersetzungen ist der Umkreis des thüringischen Hofs von Landgraf Hermann I. Am Anfang steht das zwischen 1260 und 1280 entstandene, 24 Strophen umfassende Fürstenlob. Nicht das Wesen der Liebe wird erörtert, sondern das Lob des besten Fürsten gesungen. Sechs Sänger treten gegeneinander an: Heinrich von Ofterdingen, Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide, Reinmar von Zweter, Biterolf und der Tugendhafte Schreiber. In solcher Konstellation hatte dieses Treffen nie stattfinden können. Die einst wirklichen Dichter wurden hier selbst zu literarischen Figuren eines pseudohistorischen Wettstreits. Der Hintergrund dieser erdichteten Zusammenkunft verweist jedoch sehr wohl auf die Wirklichkeit mittelalterlicher Literatur und somit auf die tiefste und reale Schicht von Wagners »romantisch« ersonnenem Mittelalterbild im Tannhäuser.

Macht und Minne Der Begriff Mittelalter umspannt mit dem Zeitraum von ungefähr 500 bis 1500 gut tausend Jahre. Beginn und Ende, sowie die Unterteilung in Früh-, Hoch- und Spätmittelalter werden von den verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen unterschiedlich anberaumt. In Hinblick auf das Werk Richard Wagners ist vor allem die Epoche vom ausgehenden 12. bis ins ausgehende 13. Jahrhundert von Interesse. Diese Blütezeit der mittelalterlichen Epik und Lyrik ist untrennbar verbunden mit den Höfen der Herrschenden. Viele Machtzentren waren Kulturzentren. Fürsten, Könige und Kaiser führten blutige Kriege und erwiesen sich gleichzeitig als höchst kunstsinnige Mäzene. Ihre Burgen waren nicht nur strategische Festungen, sondern auch Bauten zur Repräsentation. Dieser Repräsentation dienten auch die Feste, die auf ihnen gefeiert wurden, und in diesem Rahmen nahm die Literatur einen zentralen Platz ein. Man ließ Geschichten erzählen von Helden und Rittern. Man ließ der Liebe Glück und Leid besingen. Man ließ die erste Dame am Hof rühmen. Man ließ den Landesherren preisen. Die milte eines Herrschers, also seine Großzügigkeit und Freigiebigkeit, galt als hohe Tugend – und ihrer wollte man sich würdig erweisen. Das Interesse der Mächtigen am poetischen Herrscherlob war (und ist) seit jeher groß. Ebenso jenes der Dichter, durch ihr künstlerisches Schaffen existieren zu können. „Wan ich durch sanc bin zer werlde geborn“, stellt Heinrich von Morungen fest: „Denn ich bin um der Kunst willen geboren.“ Nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal begegnen, umtanzen einander Kunst und Politik im öffentlichen Raum.

Dabei entstanden keineswegs nur dem Auftraggeber willfährige Werke. Bei aller Notwendigkeit – und oft auch Überzeugung –, dem adligen Brotgeber seine Reverenz zu erweisen, bewahrten die mittelalterlichen Dichter meist selbstbewusst ihre künstlerische Unabhängigkeit und scheuten sich nicht, wenn auch aus gewisser Distanz, zu gehöriger Schelte anzusetzen. Dem Preis konnte schnell die Klage folgen, sowohl in der politischen Spruchdichtung als auch in der Liebeslyrik, dem Minnesang. Dabei wurde der Begriff minne im Sinne von ›Gemeinsinn‹ anfangs auch für das Treueverhältnis zwischen einem Herrn und seinem Gefolgsmann verwendet. Als damit dann das erdichtete Liebesverhältnis zwischen einer Dame und »ihrem« Ritter in vielfacher Weise umschrieben und besungen wurde, schwang eine feudale Grundstimmung weiterhin mit. Der Dienst am Herrn fand nun Ausdruck im Minnedienst an seiner Dame. Die Liebe der umworbenen Frau erscheint somit unerreichbar, die Frau selbst im Wortsinne unantastbar, dem menschlichen Begehren entrückt, als marienhaft-himmlisches Wesen idealisiert. Als „hohe Minne“ wird dieses Phänomen in die Literaturgeschichte eingeschrieben. Eine vielfältig paradoxe Erscheinung, denn diese Minne zu üben heißt, auf sie zu verzichten. Die poetische Trauer über das Entsagen wurde zum Ergötzen einer höfischen Gesellschaft dargebracht. Naturgemäß provozierte die „hohe“ den Ruf nach der „niederen Minne“. Der Indirektheit sexueller Sublimierung wurde die Direktheit erotischer Erlebnislyrik entgegengesetzt. Die Minne galt nun nicht mehr ausschließlich einem unerreichbaren adligen Idealbild, sondern dem Körper, dem Genuss und jedem Stand. Und die Dichter diskutierten in ihren Werken gewandt die »Minnekonzeptionen« ihrer Kollegen.

Minnesang: Das verweist auch darauf, dass die mittelhochdeutsche Lyrik gesungen zum Vortrag kam. Der jeweilige „Ton“ bezeichnete dabei sowohl die Strophenform als auch die Melodie, der metrisch-musikalische Bau wurde als Einheit verstanden. So vielfältig diese angeschlagenen „Töne“ waren, so reichhaltig entwickelten sich über die Jahre auch die Inhalte. Neben dem klassischen Repertoire von Frauenpreislied, Minneklage und Werbelied bildeten sich unter anderem der Wechsel (ein Dialog zwischen Mann und Frau), das Kreuzzugslied (der Mann muss von der Frau Abschied nehmen), das Tagelied (der anbrechende Tag beendet die Liebesnacht), das Mädchenlied (erzählt von der Liebe zu einer nichtadligen Frau) oder das Tanzlied heraus. Doch ganz gleich ob die „hohe“ oder „niedere“ Minne verhandelt wurden: Im Kern ist jede Art von Minnesang erotisch konnotiert, im Gegensatz zur politischen und didaktischen Spruchdichtung. Als »Minnesänger« produzierten sich dabei Kaiser und Fürsten ebenso wie der mittelalterliche Dienst-Adel (so genannte Ministeriale) und Berufssänger. Minnesang ist fast ausschließlich Rollenlyrik und somit Fiktion. Seiner existenziellen Ernsthaftigkeit wird mit der Zeit Humor und Provokation beigemischt. Er wird zum Spiel mit Formen, Themen und Topoi.

Irgendwann wird »Frau Minne« selbst zur Allegorie und mancher Dichter zur literarischen Figur. Es entstehen Minnesängersagen, von denen jene über den Tannhäuser durch Richard Wagner die heute bekannteste ist. Aber so, wie Richard Wagner sich sein Bild über das Mittelalter zurechtlegte, legte sich bereits das späte Mittelalter seine Bilder über die Sänger aus der Hochzeit des Minnesangs zurecht. Die große Heidelberger Liederhandschrift, eine der wichtigsten Sammlungen höfischer Lyrik, die vermutlich im Auftrag der in Zürich ansässigen Patrizierfamilie Manesse im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts entstanden ist und Werke von 140 Dichtern versammelt, zeigt 137 ganzseitige farbige Autorenbilder. Die berühmten Miniaturen dieses Codex Manesse sind jedoch ebenfalls Fiktion. Sie zeigen uns die Vorstellung, die sich die Maler gut ein Jahrhundert später von den postum Porträtierten gemacht haben. Aus dem, was aus dem Leben der Künstler tradiert war und was sie in ihren Liedern beschrieben, schufen sie mit großer Erfindungsgabe jene Illustrationen, die bis heute das Bild vom Mittelalter maßgeblich prägen. Von historischer Authentizität ist zwar die Darstellungsweise, die stilisiert Dargestellten sind es nicht. Die urkundlichen Zeugnisse sind spärlich, und das »Bild« von Leben und Person der einzelnen Dichter ergibt sich vielfach nur aus dem Werk selbst: Welche Gönner, welche historischen Ereignisse werden erwähnt? Welche Kollegen werden genannt, auf welche ihrer Werke wird Bezug genommen? Aus dem so genannten »Lyrischen Ich« muss nicht notwendig der Dichter selber sprechen. So gelingen auch heute immer nur Annäherungen an die historischen Persönlichkeiten, schattenhafte Rekonstruktionsversuche, aller Farbigkeit der Manesse-Miniaturen zum Trotz.

„Jâ herre, wie habe ich verlorn / den helt ûz Œsterrîche, / der mich sô wol behûset hât / nâch grôzen sînen êren! / Von sînen schulden was ich wirt, / nu lebe ich trûreclîche, / nu bin ich aber worden gast. – Herr Gott, dass ich verloren habe / den jungen Herren von Österreich, / der mich so gut aufgenommen hatte, / wie’s zu seiner großen Ehre passte. / Durch ihn war ich Hausherr. / Jetzt lebe ich jämmerlich, / jetzt bin ich wieder unbehaust geworden.“ (Tannhäuser, Daz ich ze herren niht enwart …)

Die Protagonisten des Sängerkrieges „Dass Tannhäuser ein fahrender Sänger war“, stellt der Germanist Joachim Bumke fest, „der eine Zeitlang am Wiener Hof eine Bleibe gefunden hat, ist tatsächlich das einzige, was als gesichert gelten darf.“ Vom Tanhuser sind Minnelieder, Sangsprüche, ein Kreuzzugs- bzw. Pilgerlied und sechs meisterhafte Leichs überliefert. Als Leich bezeichnet man eine kunstvolle Großform der mittelhochdeutschen Lyrik, die sich aus formal verschiedenen Abschnitten zusammensetzt, die selbst aus mehreren strophischen Elementen bestehen. Zwar steckt in der germanischen Wortwurzel die Bedeutung von ›Spiel‹ und ›Kampf‹, doch mischt sich durch die Klangähnlichkeit zum altfranzösischen Lai der Sinn von ›Lied‹ hinzu. Von Tannhäusers Leich IV ist sogar die Melodie überliefert. In seinem Leich I spielt er freudig auf eine mögliche Königswürde des österreichischen Herzogs Friedrich II. des Streitbaren im Jahr 1245 an und beklagt bedrückt in einem Sangspruch dessen Tod im Jahr 1246, der ihm nun Armut und Heimatlosigkeit beschert. Vielleicht verlor er dadurch auch die Einkünfte aus eigenen Höfen. Sicher ist, dass der Tannhäuser in der Mitte des 13. Jahrhunderts gelebt hat. Wir wissen nichts über seine Herkunft. Zu viele Dörfer mit Namen Tannhausen sind belegt. Dass die Abbildung der Manesseschen Liederhandschrift ihn in der weißen Tracht eines Deutschordensritters zeigt, lässt nicht auf seine tatsächlichen Lebensumstände schließen. Der Bericht über eine „durch got“ unternommene Seefahrt von Apulien aus deutet auf eine Teilnahme an einem Kreuzzug, möglicherweise 1228/29 unter Kaiser Friedrich II. Ein Lied, das verschiedene Mäzene auflistet, muss zwischen 1261 und 1266 entstanden sein. Worin der historische Minnesänger Tannhäuser außer seinem rastlosen Leben dem Helden von Richard Wagners Oper noch verwandt ist, zeigt sich in Leich II: „Ich tet ir vil sanfte wê, / ich wünsche, daz ez noch ergê. / ir zimt wol daz lachen. / Do begunden wir beide dô ein gemellîchez machen; / daz geschach von liebe und ouch von wunderlîchen sachen. – Ich tat ihr nur ganz sanft weh, / ich hoffe, es ergibt sich wieder mal. / Das Lächeln steht ihr gut. / Da fingen wir zusammen etwas Vergnügliches an, / das kam von Liebe und wundersamen Dingen.“

Tannhäusers Begeisterung für den Österreicher Friedrich II. nährte, unter anderem, zu Wagners Zeiten die Annahme, er sei ident mit Heinrich von Ofterdingen, weil dieser im Wartburgkrieg ebenfalls einen österreichischen Herzog preist und dessen milte gegen den Landgrafen von Thüringen ausspielt. Heinrichs von Ofterdingen fiktive Rolle im Wartburgkrieg weist mit Sicherheit auf eine historische Dichterpersönlichkeit hin. Der Germanist Burghart Wachinger spielt mit dem Gedanken, dass er selbst der Dichter des Fürstenlobs im Wartburgkrieg sein könnte. Auch wenn kein Werk dieses Dichters überliefert ist, wird er doch in verschiedenen mittelalterlichen Quellen als realer Autor genannt. Im Jahr 1257 ist ein Henricus dictus de Oftindinh bezeugt, ein Ministeriale der Enkelin Ludwigs III. von Thüringen. Die Namensform selber verweist eher auf einen Herkunftsort wie Ofterdingen im Landkreis Tübingen. Was bleibt, sind Vermutungen. Und diese Vermutungen haben bereits die Forscher und vor allem die Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts zu abenteuerlichen Geschichten angeregt.

„Si hâten beide sich bewegen, / ez enwart sô nâhen nie gelegen, / des noch diu minne hât den prîs. / ob der sunnen drî mit blicke waeren, / sine möhten zwischen sî geliuhten. – Sie waren entschlossen, / einander so nahe zu sein, wie nie zuvor zwei Liebende einander nahe gewesen waren. / Dafür gebührt der Minne noch immer Ruhm. / Wenn es auch drei Sonnen mit ihren Strahlen gäbe, / sie hätten nicht zwischen den beiden hindurchscheinen können.“ (Wolfram von Eschenbach, Ez ist nu tac …)

Abenteuerliche Geschichten selbst hat Wolfram von Eschenbach mit den Versepen Parzival, Willehalm und Titurel verfasst. In allen drei Werken findet Landgraf Hermann I. von Thüringen Erwähnung. Wolfram, der sich darin mehrfach selbstbewusst als Autor nennt („Ich bin Wolfram von Eschenbach“), berichtet davon, dass Landgraf Hermann ihm die französische Quelle des Willehalm vermittelt habe. Vermutlich war Hermann I. auch der Auftraggeber. Ob er es auch für den Titurel und den Parzival war, ist unsicher. Das erste Drittel des Parzival entstand vermutlich für einen fränkischen Gönnerkreis, wo man heute auch die Herkunft des Dichters annimmt. Wahrscheinlich nannte er sich nach der mittelfränkischen Stadt Eschenbach bei Ansbach, wo seit 1268 eine adlige Familie von Eschenbach bezeugt ist, die ihn als ihren Vorfahren bezeichnet. Der Berufsdichter kannte den thüringischen, fränkischen und bayerischen Raum. Heute setzt man die Lebensdaten Wolframs von Eschenbach von etwa 1170 bis 1220 an: Der Parzival muss in den Jahren von 1200 bis 1210 entstanden sein. Im unvollendeten Willehalm wird die Kaiserkrönung Ottos IV. erwähnt, die im Jahr 1209 stattfand. Im nur fragmentarisch erhaltenen Titurel wird des 1217 gestorbenen thüringischen Landgrafen Hermann bereits als Toten gedacht. In der Miniatur der Manesseschen Liederhandschrift wird Her Wolfran von Eschilbach als Ritter dargestellt, inspiriert wohl durch den Vers „schildes ambet ist mîn art“ im Parzival. Vermutlich wollte sich Wolfram damit gegen die Attitüde allzu bildungsbewusster Dichter absetzen. In diesem Zusammenhang ist auch seine Aussage zu sehen, er könne nicht lesen und schreiben: „ine kann decheinen buochstap“. Beides kann das Spiel mit literarischen Topoi sein, derer sich der Dichter zur Stilisierung seiner Person bedient.

Wolfram von Eschenbachs Parzival wird Richard Wagner, in der überheblichen Meinung, im Gegensatz zum mittelalterlichen Autor die „ächten Züge der Sage“ erkannt zu haben, zu seinem Parsifal umgestalten. Zuvor schon bedient er sich mit dem Tagelied einer herausragenden Erscheinung des Wolframschen Minnesanges. Das Tagelied beschreibt den Abschied, den der Liebhaber von seiner Dame nach der Liebesnacht nehmen muss, oft begleitet von den Warnrufen eines Wächters. Als einziges großes Tagelied gestaltet Wagner am Ende den zweiten Akt von Tristan und Isolde, dessen Handlung dem mittelalterlichen Tristan-Roman des Gottfried von Straßburg entnommen ist. Fünf Tagelieder des Wolfram von Eschenbach sind überliefert, sprachgewaltige Kunstwerke voll kühner erotischer Bilder. Von der entsagungsvollen Reinheit, mit der Wagner seinen Wolfram im Tannhäuser die Liebe besingen lässt, sind die Werke des Dichters weit entfernt: „ir liehten vel diu slehten / kômen nâher. sus der tac erschein. / weindiu ougen, suozer frouwen kus. / sus kundn si dô vlehten / ir munde, ir bruste, ir arme, ir blankiu bein. / swelh schiltær entwurfe daz / geselleclîche als si lâgen, des wære ouch dem genuoc. – Ihre leuchtenden, glatten Körper / kamen sich näher. Da wurde es Tag. / Weinende Augen, süßer Frauenkuss. / So konnten sie sich verflechten mit / Mund, Brust, Armen und den bloßen Beinen: / Wenn ein Maler das darstellen wollte, / wie sie vereinigt dalagen, das wäre zu schwierig für ihn.“ (Aus: Den morgenblic bî wahtærs sange erkôs …)

„Ir kel, ir hende, ietweder fuoz, / daz ist ze wunsche wol getân. / Ob ich da enzwischen loben muoz, / sô wæne ich mê beschouwet hân. / Ich hete ungerne ›decke blôz!‹ / gerüefet, do ich si nacket sach. / si sach mich niht, dô si mich schôz, / daz mich noch sticht als ez dô stach, / swann ich der lieben stat / gedenke, dâ si reine ûz einem bade trat. – Ihr Hals, ihre Hände, ihre Füße: / das alles ist vollkommen und schön. / Soll ich preisen, was dazwischen ist, / dann meine ich, noch mehr gesehen zu haben. / Ungern hätte ich ›Bedecke dich!‹ / gerufen, als ich sie nackt sah. / Sie sah mich nicht, als sie mich so ins Herz traf, / dass es mich noch heute wie damals schmerzt, / wenn ich jenes Ortes der Freude / gedenke, wo sie wunderschön aus dem Bad stieg.“ (Walther von der Vogelweide, Si wunderwol gemachet wîp …)

Einer der bedeutendsten Zeitgenossen Wolframs von Eschenbach war der Minnesänger und Sangspruchdichter Walther von der Vogelweide, ebenfalls ein fahrender Berufssänger, ebenfalls zeitweise zwischen den Jahren 1201 und 1214/15 tätig am Hof Hermanns I. von Thüringen. Man nimmt an, dass er ungefähr von 1170 bis 1230 gelebt hat. Die Miniatur des Codex Manesse zeigt ihn mit Schwert und erfundenem Wappen als Angehörigen des niederen Adels, ein Wunschbild ohne realen Hintergrund. Die Haltung der Figur ist den ersten Zeilen des Spruches „Ich saz ûf einem steine ..“ nachgeformt. Walthers Stand und seine Herkunft sind unbekannt. Mehrere Orte in Deutschland, Italien, Österreich, Tschechien und der Schweiz erheben Anspruch darauf, als sein Geburtsort zu gelten. Unter anderem seine Angabe „ze Œsterrîch lernde ich singen unde sagen“ weist darauf hin, dass Walther bis zum Tod seines Gönners Herzog Friedrich I. im Jahr 1198 am Babenberger Hof zu Wien tätig war. Danach scheint ein Wanderleben begonnen zu haben, das ihn, wie er berichtet, von der Seine bis an die Mur (Salzburg/Steiermark), vom Po bis an die Trave, von der Elbe bis an den Rhein und an Ungarns Grenze geführt hat.

Mehrfach taucht er in Bezug zu einem königlichen/kaiserlichen Hof auf: Zwischen 1198 und 1201 bei dem Staufer Philipp, um 1212/13 bei dem Welfen Otto IV. und bald darauf schon wieder bei dem Staufer Friedrich II. Walthers wechselnde, jeweils deutliche politische Parteinahme findet konkreten Ausdruck in seinen Sangsprüchen. Um 1220 wurde er von Kaiser Friedrich II. mit einem Zinsgut belehnt. Das einzige urkundliche Zeugnis stammt aus dem Jahr 1203: Auf einer Reiserechnung des Bischofs Wolfger von Passau findet sich der Eintrag, dass „Walthero cantori de Vogelweide“ in Zeiselmauer bei Wien Geld für einen Pelzrock gegeben wurde. Durch Walthers in jeder Hinsicht Maßstäbe setzende Dichtung erfährt auch der Minnesang eine Erweiterung ins Unerhörte. In Abgrenzung gegen die immer „höher“ besungene Minne durch Reinmar den Alten pries er die Freuden der „niederen“ Minne und klagte das Recht auf Erfüllung ein: „Minne entouc niht eine, / si sol sîn gemeine, / sô daz si gê / dur zwei herze und dur dekeinez mê. – Einseitige Liebe taugt nichts, / sie muss gemeinsam sein, / und zwar so dass sie / zwei Herzen durchdringe und keines mehr.“

Die frühe Dichtung Walthers von der Vogelweide kann teilweise deutlich als Vorbild für das Werk des Tugendhaften Schreibers ausgemacht werden. Sein Schaffen fällt in die ersten Jahrzehnte des 13. Jahrhunderts. Elf Minnelieder und zwei Spruchdichtungen sind von ihm erhalten. Möglicherweise hatte er tatsächlich das Amt eines Schreibers bei den Thüringer Landgrafen inne. Zwischen den Jahren 1208 und 1244 ist am thüringischen Hof ein „scriptor“ bzw. „notarius“ mit Namen Heinrich nachgewiesen. Vielleicht deshalb nennen thüringische Heiligenviten und Chroniken später den Tugendhaften Schreiber mit dem Namen Heinrich. Umstritten ist, ob das Wort „tugendhaft“ seine Kunstfertigkeit meint oder die Inhalte seiner Lieder, die wieder deutlich dem Ideal der hohen Minne zuneigen. Ein „lachen, ein blicken, ein friuntlîchez grüezen“ der Auserwählten macht ihn froh, allein sein „wünschen“ erfüllt ihn bereits mit unendlicher Freude. In einer Art freundlicher Reaktion vertritt der Tugendhafte Schreiber einen fast schon wieder anachronistischen Minnedienst.

„Ich will allez gâhen / zuo der liebe, die ich hân. / sô ist ez niender nâhen, / daz sich ende noch mîn wân. / doch versouche ichz alle tage / und gediene ir sô, daz si ân ir danc / mit fröiden muoz erwenden kumber, den ich trage. – Ich will allzeit eilen / zu der Liebe, die ich habe. / Und doch bin ich weit davon entfernt, / dass die Vergeblichkeit meiner Hoffnung endet. / Dennoch versuche ich es alle Tage / und diene ihr so, dass sie, auch gegen ihren Willen / den Kummer, der mich drückt, in Freude verwandelt.“ (Reinmar der Alte, Ich will allez gâhen …)

In den Umkreis von Walther von der Vogelweide gehören auch Reinmar von Zweter und Reinmar der Alte. Beide haben lediglich den Namen Reinmar gemeinsam, sonst aber nichts miteinander zu tun.

Reinmar von Zweter lebte und wirkte in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts und war damit eine Generation jünger als Walther. Nicht zuletzt wegen seiner einzigen biografischen Selbstaussage, er sei am Rhein geboren, in Österreich aufgewachsen und hätte sich Böhmen als Wohnsitz erwählt, deutet man den Namen ›Zweter‹ in Hinblick auf den niederösterreichischen Ort Zwettl. Außerdem hat man die These aufgestellt, dass Reinmar von Zweter am Babenbergerhof Leopolds VI. aufgewachsen und dort sogar Schüler Walthers gewesen sei. All das bleibt, wie so vieles, Vermutung. Er war ein Leich- und Sangspruchdichter, kein Minnesänger. In seiner Spruchdichtung aber erweist er sich allerdings als verdienter Nachfolger Walthers. Reinmar von Zweter ist es, der als Protagonist im Wartburgkrieg und in Folge auch in Wagners Tannhäuser auftaucht. In diesem Kontext der Dichterfehde aber spielt immer auch der Gedanke an Reinmar den Alten mit herein.

Reinmar der Alte, einer der wichtigsten Minnesänger um 1200, wohl eine Generation älter als Walther von der Vogelweide, war ein entschiedener Vertreter der „hohen Minne“. Sein „hoher“ Minnesang war von solch stilreiner Konsequenz, dass er nicht mehr überboten werden konnte. Walther von der Vogelweide hat darauf die „niedere Minne“ eingefordert und mit Nachdruck gegen Reinmar den Alten polemisiert. Die Auseinandersetzung der beiden Dichter ging als »Reinmar-Walther-Fehde« in die Literaturgeschichte ein. Sicher ist, dass man durch Motivbezüge, Zitate und Parodien aufeinander anspielte und einen öffentlichen Minnediskurs führte. Nicht nachgewiesen ist, ob davon auch das persönliche Verhältnis der beiden Dichter betroffen war. Dem Autor des Wartburgkrieges allerdings lag Reinmar von Zweter als streitbarer Protagonist zeitlich näher. Zudem gab er als Sangspruchdichter im Rahmen des Fürstenlobs die passendere Figur ab. In Wagners Tannhäuser aber mag man in Hinblick auf den Wettstreit um die Ergründung von „der Liebe reinstem Wesen“ auch an Reinmar den Alten denken.

Auch wenn keines seiner Werke überliefert ist, kann man doch sicher sein, dass Biterolf tatsächlich ein Dichter des 13. Jahrhunderts war. Der in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts wirkende Rudolf von Ems erwähnt in seinem Alexander-Roman einen „friunt“ (Freund) Biterolf als Verfasser eines „maere“ über Alexander und als Liederdichter. Vielleicht war er im schwäbisch-staufischen Bereich tätig, urkundliche Belege des Namens finden sich in Freiburg im Breisgau; allerdings auch in Erfurt, was wiederum auf den thüringischen Raum hinweisen würde. Auch der Wartburgkrieg spricht von einer Alexanderdichtung. Ob der von Rudolf erwähnte Biterolf mit jenem des Wartburgkrieges ident ist, muss offen bleiben. Die Strophen, in denen dort unter dem Namen Biterolf ein Lob auf die Grafen von Henneberg ausgesprochen wird, sind vermutlich später eingefügt worden. Ob dieser Autor tatsächlich auch Biterolf hieß oder mit dem Namen die Rolle eines früheren Kollegen wählt, lässt sich nicht feststellen.

Die Wartburg, der Landgraf, die Heilige Bedeutende Dichter des Mittelalters wie Walther von der Vogelweide oder Wolfram von Eschenbach wurden von Thüringens Landgrafen Hermann I. zu Beginn des 13. Jahrhunderts im wahrsten Sinne des Wortes hofiert. Unter seiner Regentschaft im Besonderen erlebte der thüringische Hof – also: eine adlige Elite – eine kulturelle Blütezeit. Dabei spielte sich das höfische Leben nicht nur auf der Wartburg bei Eisenach ab. Von gleicher, auch politischer Bedeutung waren die Neuenburg an der Unstrut und die Burg Weißensee (heute: Runneburg). Doch die Fabel vom Sängerkrieg, die Legenden über das Leben der Heiligen Elisabeth, Martin Luthers Aufenthalt und Bibelübersetzung in den Jahren 1521/22, der 18. Oktober 1817, an dem Jenaer Studenten und Professoren unter den Farben schwarz-rot-gold ein „doppeltes Fest der Wiedergeburt des freien Gedankens und der Befreiung des Vaterlandes“ zur Erinnerung an den Beginn der Reformation und zum Gedenken an die Völkerschlacht bei Leipzig feierten – all diese Ereignisse haben die Wartburg zu einem nationalen Mythos werden lassen, dem bisweilen in Verkennung der liberalen Grundstimmung des ersten Wartburgfestes ein unangenehm nationalistischer Beigeschmack anhaftet. Dazu kommt, dass die Wartburg durch den Wiederaufbau und die Erweiterungen im 19. Jahrhundert eher den Mittelalterklassizismus der Romantik widerspiegelt und mit dem Bau, wie er unter Hermann I. in Erscheinung trat, nur mehr wenig gemein hat. Weil aber Burgen zu allen Zeiten ein wichtiges Mittel zur Herrschaftsbildung sind, funktionierte auch die Wartburg zu jeder Zeit in verwandelter Form als Ort der Repräsentation und der Macht, dem jeweils die Kunst ihren Glanz verlieh.

Mehrere Generationen haben seit den 70er Jahren des 11. Jahrhunderts an der Wartburg gebaut. Hermann I. war nur einer der Bauherren, wenngleich auch einer der wichtigsten. Geboren wurde er um 1155, gestorben ist er am 25. April 1217. Sein Vater war Landgraf Ludwig II. von Thüringen, seine Mutter Jutta war die Tochter von Herzog Friedrich II. von Schwaben. Nach dem Tod des Vaters übernahm im Jahr 1172 zunächst sein Bruder Ludwig III. die Macht. Mit ihm zusammen geriet er als Anhänger Friedrich Barbarossas 1180 für eineinhalb Jahre in Gefangenschaft Heinrichs des Löwen. 1181 wurde er mit der Pfalzgrafschaft Sachsen belehnt, was ihn die Neuenburg als Residenz ausbauen ließ. 1190 starb Landgraf Ludwig III. von Thüringen ohne Erben, und Hermann, erster seines Namens, behauptete sich als Nachfolger seines Bruders. Nun ließ er die Wartburg ausbauen. Der Hof zu Eisenach wurde zu einem Mittelpunkt des höfischen Kunstbetriebes in Europa (das so noch nicht hieß). Während des deutschen Thronstreits zwischen Staufern und Welfen wechselte Hermann I., ohne zu zögern, dreimal nacheinander zum Welfen Otto IV. über und beteiligte sich am Ende doch an der Königswahl des Staufers Friedrichs II. Bei aller Kunstsinnigkeit war der thüringische Landgraf ein machtbewusster und einflussreicher Stratege, der zur Festigung seines Hauses kühl kalkulierte Entscheidungen traf. Die Macht zu erhalten, hieß auch, dynastische Bande zu knüpfen und eine gezielte Heiratspolitik zu betreiben. Sein Sohn Ludwig, der spätere IV., sollte die ungarische Königstochter Elisabeth heiraten.

Elisabeth wurde 1207 als drittes Kind des ungarischen Königs Andreas II. und Gertruds von Andechs-Meranien geboren. Vermutlich war Elisabeth noch ein Säugling, als die Hochzeit mit Ludwig vereinbart wurde. Als seine Verlobte wurde sie 1211 im Alter von vier Jahren aus Ungarn an den thüringischen Hof gebracht. 1217 starb Landgraf Hermann I., auf ihn folgte nun Ludwig IV. 1221 heiratete er Elisabeth, die nun 14 Jahre alt war. Drei Kinder gingen aus dieser Ehe hervor. 1222 wurde der spätere Landgraf Hermann II. geboren. Sophie, die spätere Herzogin von Brabant, kam 1224 zur Welt und 1227 Gertrud, die später dem Prämonstratenserinnenstift Altenberg als Priorin vorstehen wird. Elisabeths Leben war von vehementer Frömmigkeit bestimmt. Schon zu Lebzeiten ihres Mannes, der 1227 auf einem Kreuzzug (jenem, an dem auch der Tannhäuser teilgenommen haben könnte) starb, strebte sie nach einem Leben in der Nachfolge Christi. Die religiösen Armutsbewegungen der Zeit, Beginen und Franziskaner, übten großen Einfluss aus. Radikale Nachfolge Christi, das hieß auch für Elisabeth: Selbsterniedrigung und schmerzhafte Buße, eigene Armut und Hinwendung zu den Armen, soweit es ihre Stellung als Landgräfin zuließ. Innerhalb einer höfischen Lebenswelt war dies im Grunde skandalös. Ludwig IV. soll Elisabeth dennoch dabei unterstützt haben. Als er 1226 aufbrach, um in Italien bei Kaiser Friedrich II. das Kreuzzugsgelübde abzulegen, vertrat sie ihn vollverantwortlich als Landgräfin und leitete während einer verheerenden Hungersnot umfangreiche Hilfsmaßnahmen ein.

Elisabeth stand in enger Beziehung zum Kreuzzugsprediger und späteren Ketzerverfolger Konrad von Marburg, dem sie 1226 Gehorsam und Ehelosigkeit im Falle des vorzeitigen Todes ihres Mannes gelobte. Nachdem Ludwig IV. bei Otranto gestorben war, wurde Elisabeth gezwungen, mit ihren Kindern die Wartburg zu verlassen. Konrad übernahm die Sachwalterschaft in äußeren Angelegenheiten. Elisabeth erneuerte ihm gegenüber das Gelübde, sich von ihrer Familie, ihrem Willen und der Welt loszusagen. Von den hohen Abfindungen ihrer Verwandtschaft stiftete sie in Konrads Heimatort Marburg ein Hospital. Dort lebte sie, nachdem sie im Winter 1228 in den geistlichen Stand eingetreten war, ohne dabei einem festen Orden anzugehören, fortan bedingungslos ihrem Armutsideal und verschrieb sich völlig dem Dienst an den Armen, Kranken und Aussätzigen. Zwiespältig wird mittlerweile ihre Beziehung zu Konrad von Marburg beurteilt, dem sie völlig hörig schien. Blutige Geißelungen und Selbstgeißelungen lassen an ein selbstzerstörerisches, fast sadomasochistisches Verhältnis denken. Nachdem Elisabeth in der Nacht vom 16. auf den 17. November 1231 im Alter von nur 24 Jahren gestorben war, versuchte Konrad von Marburg die Heiligsprechung zu erwirken. Seine Bestrebungen scheiterten. Elisabeths Leben erschien den notwendigen Fürsprechern als zu radikal und unbequem. Erst als ihr Schwager, Konrad von Thüringen, in den Deutschen Orden eintrat, kam das Verfahren wieder in Gang. Das Interesse an einer Heiligen, deren Glanz nach ihrem Tod nun doch auch auf die Familie zurückstrahlen durfte, war wieder erwacht. Die Heiligsprechung erfolgte zu Pfingsten des Jahres 1235 in Perugia.

Zwischen Geschichte und Geschichten Historische Persönlichkeiten werden zu literarischen Figuren. Das über sie Erzählte bekommt später fälschlicherweise historisches Gewicht. Fiktion und Realität können auf den ersten Blick verschwimmen. Das Erzählgebilde vom Wartburgkrieg hat viele Geschichtsschreiber auf eine falsche Fährte gelockt. Dabei scheint nicht nur die Zusammenkunft von Dichtern von so unterschiedlichen Generationen und Wirkungskreisen abenteuerlich, sondern auch der Fortgang der Geschichte innerhalb dieses über so lange Zeit entstandenen Sangspruchkomplexes. Das Fürstenlob also steht am Anfang. Wer den besten Fürsten am virtuosesten zu preisen vermag, soll den Sieg davon tragen. Am Ende steht Heinrich von Ofterdingen mit seinem kompromisslosen Eintreten für den Herzog von Österreich alleine gegen Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide, Reinmar von Zweter, Biterolf und den Tugendhaften Schreiber, die schließlich allesamt für Hermann I. von Thüringen und dessen großzügiges Wesen singen. Man ruft nach dem Henker. Die Landgräfin aber stellt sich schützend vor Heinrich von Ofterdingen und setzt durch, dass er den in Nekromantie bewanderten Klingsor von Ungarn holen darf, der den Rang des Österreichers bezeugen könne. Es folgt das Rätselspiel, in dem sich Wolfram von Eschenbach und Klingsor, der wiederum eine Figur aus Wolframs Parzival ist (!), einen Wettstreit liefern im Auflösen von allegorischen Bildern. Auf die weiteren Abschnitte der Totenfeier, von Zabulons Buch und Aurons Pfennig sei hier weiter nicht eingegangen. Erwähnenswert ist jedoch, dass der Klingsor-Strang in den Legenden der Heiligen Elisabeth seine Fortsetzung fand. Schon früh beginnen also die Sagenkreise aufeinander abzufärben. Ausgerechnet Klingsor, diese faszinierend heidnische Gestalt, sieht in der Vita S. Elisabeth des Dietrich von Apolda von seiner Eisenacher Herberge in die Sterne und weissagt, dass dem König von Ungarn eine Tochter geboren werde, die Gattin des Landgrafensohnes und eine große Heilige sein werde.

Mit einer anderen nicht-christlichen Gestalt bekommt es der später als »alter ego« des Heinrich von Ofterdingen gedeutete Tannhäuser zu tun. Die Volkssagen stellen ihn sich bald schon im Berg der antiken Liebesgöttin Venus vor. Die Verbindung eines Sterblichen mit einer Frau aus dem Jenseits, sein Aufenthalt in ihrem Reich, seine Rückkehr in die Welt der Menschen, die oft mit dem endgültigen Verbleib in diesem »Feenreich« endet – ein solches Grundschema war weit verbreitet. Zusammen mit einigen dem Genre der Büßerlegende entlehnten Elementen und der anhaltenden Kenntnis von Tannhäusers dichterischem Werk, in dem er von seiner Rastlosigkeit ebenso berichtet wie von seiner Lust an der Liebe, verband es sich zur Tannhäuser-Ballade, die seit der Mitte des 15. Jahrhunderts überliefert ist: Der Tannhäuser nimmt Abschied von Venus und will vom Papst Vergebung für seine Lust mit der heidnischen Liebesgöttin erlangen. Der Papst spricht ihn von der Sünde nicht los. Sowenig wie sein dürrer Stab zu ergrünen vermag, sowenig könne Tannhäuser Gnade finden. Tannhäuser kehrt in den Venusberg zurück. Der Stab des Papstes ergrünt. Das Lied schließt mit der Mahnung an die Geistlichkeit, den Menschen keinen „Mißtrost“ zu geben, oder mit der Verdammung Papst Urbans IV.

Venus findet sich als antike Gottheit im mittelalterlichen Exil wieder. Das offizielle christliche Abendland sah das Heil in der Jungfräulichkeit Marias, nicht in der hochgemut stimmenden Sinnesfreude einer Liebesgöttin. Göttliche Liebe galt als keusch und entsagungsvoll. Doch Frau Venus war nicht verschwunden. Ihr Wesen blieb vorhanden, göttlich allemal. Zurückgezogen in Bergen und Höhlen existierte sie weiterhin, vielleicht auch umso mehr, in den Geschichten und Fantasien der Menschen. Die mittelalterlichen Dichter hatten durch die Allegorie der »Frau Minne« die Tür zu »Frau Venus« wieder einen Spaltbreit aufgemacht. Der Urtrieb der Menschheit ließ sich nicht so einfach vertreiben.

Die italisch-römische Göttin Venus, die man im 4. Jahrhundert v. Chr. mit der griechischen Aphrodite gleichzusetzen begann, zählt man zu den ältesten Fruchtbarkeitsgottheiten und den mächtigsten Gottheiten überhaupt. Wen wundert’s?

Von Aphrodite, der Göttin der Liebe, erzählt man sich, dass sie aus dem Schaum geboren wurde, in den der Samen des Uranus sich verwandelt hatte, nachdem sein Sohn, der Titan Kronos, ihn entmannt und sein abgeschnittenes Geschlechtsteil ins Meer geworfen hatte. Ihr verwandt, ebenfalls der ältesten Götterschicht angehörig, ist Eros (Amor), die Macht der Liebe. Seiner unbändigen Kraft entspringt das Gefühl von Richard Wagners Elisabeth für Tannhäuser. Mit Tannhäusers Worten: „Den Gott der Liebe sollst du preisen, / er hat die Saiten mir berührt, / er sprach zu dir aus meinen Weisen, / zu dir hat er mich hergeführt!“

Venus/Aphrodite trägt, wie alle antiken Götter, zutiefst menschliche Züge. Eigentlich war sie mit Vulcanus/Hephaistos »verheiratet«, dem Gott des Feuers und der Handwerker. Ihr beständig andauerndes Verhältnis zum Kriegsgott Mars/Ares hat diese »Ehe« unentwegt belastet. Als Venus sich dann Adonis hingab, raste wiederum Mars vor Wut, verwandelte sich in einen Eber und brachte den schönen Jüngling zur Strecke. Und auch Venus, die es mit der Treue sonst nicht so genau nahm, konnte in ihrer Eifersucht zu gefährlicher Hochform auflaufen. Wenn sie in ihrer Ehre gekränkt war, wenn sie ihre Einzigartigkeit in Frage gestellt sah, konnte die Rache schrecklich sein.

Venus erscheint als Diva mit einem großen Hang zur Theatralität. Kein Wunder, dass in Wagners Oper der Künstler Tannhäuser auch in dieser Hinsicht eine große Affinität verspürt. So wie Faust aus der dunklen Welt seines Mittelalters zwischen den antiken Kulissen der klassischen Walpurgisnacht in Helena nach dem Idealbild der Schönheit sucht, so sucht auch Tannhäuser im nicht-christlichen und doch so verteufelt humanen Bereich antiker Verwunschenheit nach dem Wunschbild der Hingabe. Damit hat auch er den Schritt zu den „Müttern“ gewagt, hin ins „Unbetretene, nicht zu Betretende“. Heidnisch ist diese Welt, dem christlichen Abendland verdächtig, unheimlich auch, weil die Nachtseiten und Abgründe der Vernunft plötzlich ganz und gar poetisch erscheinen. Unter anderem deshalb ist Richard Wagners Tannhäuser eine »romantische« Oper.

Eine romantische Oper? Vom ausgehenden 18. bis weit über die Mitte des 19. Jahrhunderts spricht man kulturgeschichtlich vom Zeitalter der Romantik. Die Frage, was denn Romantik sei, wurde bisher auf so vielfältige Weise beantwortet, wie diese Epoche selbst Strömungen durchlaufen hatte. Der Philosoph Rüdiger Safranski hat sie in seinem jüngst erschienenen, vielbeachteten Buch als „deutsche Affäre“ untersucht. Seltsam, dass Safranski darin die grundlegenden Untersuchungen ignoriert, die bereits vor gut 20 Jahren aus dem Nachlass des Kulturphilosophen Ernst Fischer unter dem Titel Ursprung und Wesen der Romantik herausgegeben wurden. „Romantische Haltung“, schreibt dort Ernst Fischer, „das war zunächst der individuelle Protest des strebsamen Kleinbürgers gegen Absolutismus, Adelsprivileg, feudales Schmarotzertum, gegen die aus Aristokraten, reichen Bürgern und bevorzugten Intellektuellen bestehende ›Elite‹, deren berühmtester Repräsentant Voltaire war; mehr und mehr aber und vor allem nach der Französischen Revolution, im Zeitalter der Enttäuschung und Ernüchterung, wandte sich dieser Protest gegen den siegreichen Kapitalismus, gegen Industrialisierung und Kommerzialisierung, gegen die Banalität der bürgerlichen Gesellschaft, oftmals verknüpft mit utopischen Visionen einer verklärten Vergangenheit oder traumhaften Zukunft. Die Vereinigung von individuellem Protest und sozialer Utopie, die Nicht-Übereinstimmung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, ihre Negation durch Kritik und Phantasie sind wesentliche Merkmale der romantischen Haltung.“

In einem solchen Fazit lässt sich auch Richard Wagners „romantische Oper“ Tannhäuser wiedererkennen – im Widerspruchsgeist der Titelfigur, im Widerspruchsgeist von Elisabeth und in Venus, die selbst ein Widerspruchsgeist ist im Sinne von: Teil einer Geisterwelt, die im Widerspruch zur gesellschaftlichen Norm steht. Aber Wagners Tannhäuser ist in diesem Sinne nicht nur ein Ergebnis einer »romantischen« Haltung. Wagner schöpft auch aus dem Themenfundus der Dichter der Romantik, die sich die mittelalterliche Tannhäuser/Ofterdingen-Stofftradition bereits zu eigen gemacht hatten. Im Fragment gebliebenen Roman Heinrich von Ofterdingen von Novalis (1802) war eine dunkle, bilderreiche Sehnsucht zu entdecken. Heinrich wird hier vom Dichter Klingsohr in das Wesen des „romantischen Morgenlandes“, der Poesie eingeweiht, dessen wichtigste Provinz, die Liebe, ihm von Klingsohrs Tochter Mathilde erschlossen wird. Den Sängerwettstreit konnte Novalis nicht mehr ausführen, vielleicht wäre es auch nicht mehr dazu gekommen. Für den Schluss notierte er: „Keinen Streit auf der Wartburg.“ Und: „Das ganze Menschengeschlecht wird am Ende poëtisch. Neue goldne Zeit.“ Den Sängerkrieg führte dann E.T.A. Hoffmann aus, als er in den Serapionsbrüdern (1819) von den „Meistersängern auf der Wartburg“ erzählte. E.T.A. Hoffmanns »Romantik« verwob das Poetische mit dem Bizarren, Grotesken und Unheimlichen. Und der romantischen Bilderwelt des Unheimlichen widmete sich Heinrich Heine in seinem Essay über die Elementargeister, der 1837 im dritten Teil seines Salon erschienen war und Wagner mit dem Lied von Tannhäuser und Venus bekannt machte.

Richard Wagner begann 1842 seiner eigenen, eigenwilligen Version der Tannhäuser-Fabel Form zu geben. Schon die mittelalterlichen Lyriker hatten zum Teil entlehntes Erzählgut neu zusammengesetzt. Die aus unterschiedlichen Richtungen zusammenlaufenden Quellen, durch die Jahrhunderte selbst immer wieder umgestaltet, zwang Wagner nun in seiner Vorstellung der Geschichte zusammen. Die Stadien der Metamorphose noch einmal zusammengefasst: Tannhäuser war ein mittelhochdeutscher Lyriker aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Er lebt in Verknüpfung mit der Sage vom Venusberg als legendäre Figur weiter. Später wird der Tannhäuser mit Heinrich von Ofterdingen in Verbindung gebracht, einem der Protagonisten in der Sangspruchsammlung vom Wartburgkrieg, der sich fiktiv am Hof Hermanns I., des Landgrafen von Thüringen, zuträgt. Die Erzählung von diesem Sängerkrieg findet sich auch in den Viten der Heiligen Elisabeth wieder. Elisabeth, eigentlich die Schwiegertochter des Landgrafen, tritt in der Oper als dessen Nichte auf. Damit war der Weg frei für die Liebesgeschichte zwischen Elisabeth und Tannhäuser. Am Ende lässt Wagner Elisabeth für Tannhäusers Seelenheil sterben. Schon Senta war für den Holländer in den Tod gegangen, und Wagner hatte geglaubt, darin eine Analogie zum Faust zu entdecken, den er durch Gretchens Tod erlöst sah. Frauen, die sich opfern, um die Männerwelt zu erlösen, sind Wagners immerwährendes, neurotisches Thema in unterschiedlichen Varianten: Elsa, Isolde, Brünnhilde, Kundry.

Das von Richard Wagner für den Tannhäuser erfundene »romantische« Mittelalter verweist – ob mit oder ohne Absicht – mit der Frage, wie denn die Liebe poetisch zu ergründen sei, wieder auf die literarhistorische Wirklichkeit zurück. Wagners Tannhäuser übernimmt die Rolle des agent provocateur, die um 1200 eigentlich Walther von der Vogelweide im Streit um die „hohe“ und „niedere“ Minne innehatte. Der Lobpreis der körperlichen Liebe und die Angriffe gegen die dieser Liebe Unkundigen, wie sie Wagner seinen Tannhäuser anstimmen lässt, erinnern an die mittehochdeutschen Verse Walthers von der Vogelweide: „Sie verwîzent mir daz ich / ze nidere wende mînen sanc. / Daz si niht versinnent sich / waz liebe sî, des haben undanc! / Sie getraf diu liebe nie, / die nâch dem guote und nâch der schœne minnent, wê wie minnent die? – Sie werfen mir vor, dass ich / an niedrig Geborne meinen Sang richte. / Dass sie nicht begreifen / was wirkliche Liebe ist: dafür sollen sie verwünscht sein! / Nie hat wahre Liebe sie ergriffen, / die ihre Liebe nach Reichtum und äußerer Schönheit richten; o weh, wie lieben die!“ Walther nimmt bei Richard Wagner die Position seines historischen »Gegners« Reinmars des Alten ein. In der Oper auf seiner Seite auch Wolfram von Eschenbach, in dessen tatsächlichem literarischen Œuvre die Sinneslust aufs Schönste ausgemalt worden war. Wagner stellt Wolfram nun genau hinein in das Paradoxon der „hohen Minne“, die in letzter Konsequenz Entsagung bedeutet. Das Thema ist im Grunde gleich geblieben, Wagner hat nur die Rollen anders verteilt.

Fassungen, Musikalisches Am 23. Januar 1883, drei Wochen vor Richard Wagners Tod, notierte Cosima Wagner in ihr Tagebuch: „Abends Plauderei, welche R[ichard]. mit dem Hirtengesang und Pilgerchor aus Tannhäuser beschließt. Er sagt, er sei der Welt noch den Tannhäuser schuldig.“ Eine Randbemerkung, vielleicht. Aber sie weist doch darauf hin, dass Wagner einen Ausdruck von größerer Geschlossenheit suchen wollte. Das waren die Überlegungen desjenigen, der damals auf ein ganzes Leben zurückblickte. Der Tannhäuser aber war und ist ein Wurf des rastlosen 32jährigen. Die innere Spannung der Oper lässt die damalige Unruhe seines Schöpfers erkennen und erscheint gerade darum von großer Authentizität. Der spannungsgeladenen Notwendigkeit, das tendenziell so heterogene Werk zusammen zu halten, entspringt die große Kraft des Tannhäuser.

Ursprünglich hätte, wie schon der erste Prosaentwurf, das Werk Der Venusberg heißen sollen. Dann kam Wagner zu Ohren, dass man in studentischen Kreisen darüber witzelte, bezeichnet in der Medizin der Begriff mons veneris bzw. mons pubis doch den weiblichen Schamberg. Der Komponist änderte daraufhin den Titel, der doch in freudianischer Weise so treffend gewählt war. Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg wurde am 19. Oktober 1845 in Dresden uraufgeführt. Noch in der Nacht darauf begann Wagner mit den ersten Korrekturen. Das Publikum war vom Finale des letzten Aufzugs nicht wirklich begeistert gewesen. Der Schluss der Urfassung der Oper gehörte allein Tannhäuser und Wolfram. Venus trat nicht Erscheinung, Tannhäuser halluzinierte ihr Auftreten, das sonst nur musikalisch imaginiert wurde und durch die szenische Anweisung, dass der Hörselberg „in immer zunehmender rosiger Glut erglüht“. Von Elisabeths Tod sang kurz ein entfernter Männerchor. Ganz am Ende erschienen nur die jüngeren Pilger. Das Stück verklang mehr, anstatt zu einem »großen« Ende zu finden. Bis ins Jahr 1848 nahm Wagner immer wieder Änderungen vor, die schließlich 1852 fixiert wurden. Dieser Stand gilt heute als »Dresdner Fassung«, die sich vor allem am Anfang und Ende des dritten Aufzugs von der (auch in Dresden aufgeführten) Urfassung unterscheidet: Die Instrumentaleinleitung wurde von 155 auf 92 Takte gekürzt. Im Aktschluss erscheint Venus singend auf der Bühne, der Trauerzug mit dem offenen Sarg Elisabeths wird auf die Bühne getragen, Tannhäuser kann an ihrer Leiche niedersinken, und der gesamte Chor und alle Solisten heben zu einem musikalisch imposanten Finale an.

Auch für die Aufführung am 18. März 1861 in Paris nahm Wagner Änderungen am Tannhäuser vor. Auslöser war die Forderung nach einem Ballett, das an der Opéra obligatorisch war. Wagner weigerte sich, dieses Ballett wie vorgeschrieben im zweiten Akt unterzubringen, nur weil der Pariser Jockey-Club – allesamt einflussreiche aristokratische Abonnenten – erst nach dem Abendessen den Vorstellungen beizuwohnen pflegte. Aber er schuf ein großes Bacchanal für den Venusberg, dessen musikalischer Kühnheit man anhört, dass Wagner mittlerweile Tristan und Isolde komponiert hatte. Doch konnte diese Erweiterung auch nur deshalb erfolgen, weil die ursprüngliche Venusberg-Musik bereits ein »tristaneskes« Potenzial in sich barg. Im ersten Aufzug erweiterte Wagner zudem die Partie der Venus und fasste sie musikalisch teilweise neu. Den Tannhäuser-Part tastete er weniger an, zumal eine Änderung von dessen dreistrophigem Venus-Lied, das anschließend im Sängerkrieg des zweiten Aufzugs seine Fortsetzung findet, auch dort zu weitreichenden Änderungen geführt hätte. Dafür strich er innerhalb des Sängerkrieges die Wechselstrophe zwischen Tannhäuser und Walther von der Vogelweide. Dadurch wird der Fokus der Auseinandersetzung zwar stärker auf Tannhäuser und Wolfram gerichtet, der Sängerkrieg als solcher verliert jedoch an Gewicht. Aber nicht wegen der musikalischen Neuerungen, allen voran das Bacchanal im Venusberg, geriet diese »Pariser Fassung« zunächst in die Schlagzeilen, sondern wegen des Skandals, den der düpierte Jockey-Club verursachte, als er sich um sein Ballett im zweiten Akt gebracht sah.

Man muss das Interesse an musikalischen Neuerungen nicht nur der Tristan-beeinflussten »Pariser Fassung« (1861) zukommen lassen. Bereits die in Dresden uraufgeführte Urfassung (1845) wie auch die in Teilen umgearbeitete »Dresdner Fassung« (1848/52) zeigen, dass Richard Wagner bereits mit Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg den neuen Weg zu seinem Musikdrama beschritten hat. Das betrifft das Verhältnis von Wort, Musik und Handlung ebenso wie die »avantgardistischen« Tendenzen in der Harmonik. Neben einigen »klassischen« Opernnummern (Elisabeths Arie und das Duett Tannhäuser/Elisabeth im zweiten Aufzug, Wolframs Lied an den Abendstern im dritten Aufzug) schuf Wagner musikdramatische Szenen von durchaus unkonventioneller Art (Tannhäuser/Venus im ersten Aufzug oder Tannhäusers Rom-Erzählung im dritten Aufzug). Das Zusammenspiel der unterschiedlichen Welten gestattete ihm ein Ineinandergreifen der verschiedenen Sphären auch in der musikalischen Stilistik. Charakterisierend nützt Wagner einen chromatischen Stil für jede Art von Venusberg-Atmosphäre, einen sakralen Ton für die Pilgerchöre, einen »höfischen«, feierlich-erhebenden Stil für die Einzugs- und Huldigungsmusiken auf der Wartburg und schließlich den Stil der von der Harfe begleiteten Lieder des Sängerkriegs.

Die Harfenbegleitung findet sich allerdings bereits im Venusberg, wenn Tannhäuser sein Lied zu Ehren der Göttin singt und sich dabei Strophe für Strophe von Des über D zu Es seinen Abschied und seine Freiheit ertrotzt. Mit diesen Halbtonschritten wiederum ist er Teil der Venuswelt, deren charakteristische Chromatik bereits richtungsweisend für Tristan und Isolde ist. Mit dem Tristan stieß Wagner das Tor weit auf in die Auflösung der Tonalität. Doch bereits die Harmonik des Tannhäuser war für die Zeitgenossen kaum einzuordnen. Wagners Spiel mit Chromatik und Enharmonik – man denke nur an den fünftönigen Klang des Sirenengesangs („Naht euch dem Strande“) – konnte in das damals verbindliche harmonische System nicht klar eingeordnet, geschweige denn mit den musiktheoretischen Begrifflichkeiten der Zeit erfasst werden. So stellte der Revolutionär Richard Wagner mit dem Tannhäuser eine Figur auf die Opernbühne, die gesellschaftliche Tabus übertritt, und komponierte dazu eine Musik, die begann, die musikalischen Konventionen zu sprengen.

Schuld und Gnade Tannhäuser, ein radikalisierter Tasso, überschreitet die heuchlerische Schicklichkeitsgrenze der Wartburggesellschaft. Die reagiert nicht mit einem Verweis, sondern setzt an zu Mord und Totschlag. Tabuverletzungen werden besonders dann scharf geahndet, wenn einer öffentlich tut oder benennt, was im Grunde jedermanns Begierde ist. Wenn der Mantel des Verschweigens und Verdrängens weggerissen wird, ist das Geschrei derer, die sich heimlich darunter getummelt haben, am größten. Der Skandal besteht für die bourgeoise Festgesellschaft nicht nur darin, dass Tannhäuser mit dem Lobpreis gelebter und genossener Sexualität ihre eigenen Wünsche und Ängste zum Thema macht. Sein freimütiges Bekenntnis, selber die höchste Lust im Schoß der nicht-christlichen Liebesgöttin genossen zu haben, endet mit dem Aufruf: „Armsel’ge, die ihr Liebe nie genossen, / Zieht hin, zieht in den Berg der Venus ein!“ Indem Tannhäuser das intim Gewünschte, doch öffentlich nicht Benannte einklagt, bricht der Damm der Aggression, die sich schließlich im geforderten Bußgang nach Rom kanalisiert. Aber wenn sich die Gemüter darüber erhitzen, dass Tannhäuser „der Hölle Lust geteilt“ hätte, ist das, bei aller Gefährlichkeit, nichts weiter als die ewig zu rasche sensationslüsterne Erregung der Masse. Schon die spätmittelalterliche Tannhäuser-Ballade ließ den Helden wegen der Todsünde der Wollust pro forma nach Rom pilgern, um ihn zwar ungesühnt, aber durchaus zufrieden wieder in den Venusberg zurückkehren zu lassen. Und auch Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg ist nicht das Drama einer christlichen Läuterung. Wenn Tannhäuser büßend nach Rom zieht, dann tut er es, weil er einen geliebten Menschen kompromittiert hat: Elisabeth.

Die Aufgabe des Sängerwettstreites besteht darin, durch „Liedes Kunst der Liebe Wesen“ zu „enthüllen“. Wo immer in Bildern gesprochen wird, werden die Bilder selbst mehrdeutig. Über die Liebe heißt in diesem Fall auch über Elisabeth zu singen und zu dichten. Elisabeth ist das Objekt der Begierde und das Objekt des Lobpreises für jeden der teilnehmenden Sänger. Keiner von ihnen spricht im Grunde über eine abstrakte Gefühlswelt. Wenn Tannhäuser nun der „Liebe Wesen“ im „Genuss“ und „freud’gem Triebe“ erfüllt sieht, ist er zwar am ehrlichsten von allen, aber gleichzeitig hat er Elisabeth damit in mehrfacher Hinsicht bloßgestellt und eine Art von Vertrauensbruch begangen. Dass ihre Liebe keine naive Jungmädchenliebe mehr ist, hat Wagner in der so genannten »Hallenarie« deutlich auskomponiert. Tannhäuser singt in seinen Wettstreit-Strophen nicht nur in Erinnerung an Venus, sondern auch im Verlangen nach Elisabeth. Damit präsentiert er der Öffentlichkeit, was in vertraulicher Privatsphäre geschützt sein müsste. „Was ist die Wunde eures Eisens“, fragt Elisabeth, „gegen den Todesstoß, den ich von ihm empfing?“ Dass Tannhäuser die Verlogenheit der Gesellschaft vorführt, ist seine Pflicht als Künstler. Indem er dabei aber einen Menschen schwer verletzt, lädt er Schuld auf sich: „Doch, ach, sie frevelnd zu berühren, / hob ich den Lästerblick zu ihr!“ Tannhäuser tut Buße, weil er Elisabeth zutiefst gekränkt hat, nicht wegen seines gesunden Sinns für Sinnlichkeit. Eine solch prüde Propaganda hätte auch nichts gemein mit der erotomanen Persönlichkeit Richard Wagners.

„Wie albern müssen mir nun die in moderner Lüderlichkeit geistreich gewordenen Kritiker vorkommen, die meinem ‚Tannhäuser’ eine spezifisch christliche, impotent verhimmelnde Tendenz andichten wollen!“ Ganz klar bezog Richard Wagner 1851 in der Mitteilung an meine Freunde Stellung. „Was endlich konnte diese Liebessehnsucht, das Edelste, was ich meiner Natur nach zu empfinden vermochte, wieder Anderes sein, als das Verlangen nach dem Hinschwinden aus der Gegenwart, nach dem Ersterben in einem Elemente unendlicher, irdisch unvorhandener Liebe, wie es nur mit dem Tode erreichbar schien? Was war aber dennoch im Grunde dieses Verlangen Anderes, als die Sehnsucht der Liebe, und zwar der wirklichen, aus dem Boden der vollsten Sinnlichkeit entkeimten Liebe, – nur einer Liebe, die sich auf dem ekelhaften Boden der modernen Sinnlichkeit eben nicht befriedigen konnte?“ Tannhäusers Sehnsucht führt ihn weg von der Göttin Venus hin zu dem Menschen Elisabeth. Keuschheit hatte Richard Wagner dabei nicht im Sinn, selbst nicht wenn er Tannhäuser trotzig singen lässt: „Mein Heil ruht in Maria!“ Am 10. September 1842 schrieb er an den Maler Ernst Benedikt Kietz: „In der Stadtkirche von Aussig ließ ich mir die Madonna von Carlo Dolci zeigen: das Bild hat mich außerordentlich entzückt, u. hätte es Tannhäuser gesehen, so könnte ich mir vollends ganz erklären, wie es kam, dass er sich von Venus zu Maria wandte, ohne dabei zu sehr von Frömmigkeit hingerissen zu sein. – Jedenfalls steht nun die Heilige Elisabeth bei mir fest.“

Heilig wird Elisabeth erst nach ihrem Tod gesprochen. Zu Lebzeiten handelt sie zutiefst menschlich, mit einer bewundernswerten Radikalität. Das der selbstaufopfernden Caritas gewidmete Leben der historischen Elisabeth war der Umwelt ebenso ein Skandal wie die Figur in Wagners Oper, die mit ungeheurem Selbstbewusstsein dem aufgebrachten Mob entgegentritt, der drauf und dran ist, Tannhäuser zu lynchen. Diejenigen, die eben noch sittenstreng das verlogene Ideal einer Leitkultur des christlichen Abendlandes einklagten, sie scheuen in der nächsten Sekunde vor Mord nicht zurück. Von Christlichkeit keine Spur, und Elisabeth konfrontiert sie alle mit deren geheuchelter Gottesfurcht: „Die ihr so stark im reinen Glauben, / verkennt ihr so des Höchsten Rat? / Wollt ihr des Sünders Hoffnung rauben, / so sagt, was euch er Leides tat?“ Auch Elisabeth sprengt nun die Konvention, und darin ist sie Tannhäuser wesentlich verwandt. Was die beiden verbindet, ist tiefes Verständnis wie Leidenschaft gleichermaßen. Von großer Erregung zeugt Wagners Musik, wenn Elisabeth die bald wieder mit Kunst und Gesang erfüllte Halle begrüßt und Tannhäusers Rückkehr erwartet: „Wie jetzt mein Busen hoch sich hebet, / so scheinst du jetzt mir stolz und hehr. / Der dich und mich so neu belebet, / nicht länger weilt er ferne mehr.“ Und selbst Elisabeths Gebet im dritten Aufzug ist ein, wenn auch nun klagendes, Eingeständnis: „Wenn je ein sündiges Verlangen, / ein weltlich Sehnen keimt’ in mir, / so rang ich unter tausend Schmerzen, / dass ich es töt’ in meinem Herzen!“ In dieser Leidenschaft hat Elisabeth weit mehr mit Venus als mit der Jungfrau Maria zu tun. Und die antike Göttin Venus wiederum weist »im Grunde ihres Herzens« sehr menschliche Züge auf.

Venus ist in gewissem Sinne eine Kunstfigur, eine sinnlich-theatrale Erfindung. Und sie hat doch, wie jeder Theaterzauber, manchmal mehr mit dem Menschsein zu tun als die scheinbare Realität. Die Liebesgöttin, die Kraft der Liebe, der unstillbare Eros: Bilder und Allegorien einer inneren Wirklichkeit. Selbst die Welt jenseits ist von ihrem Dasein umsponnen. Wenn der Hirt „Frau Holda“ besingt – „Mein Auge begehrte zu schauen. Da träumt ich manchen holden Traum“ – dann erzählt er von Venus. Und selbst der entsagungsvolle Wolfram von Eschenbach wendet sich an Venus (!), wenn er den „Abendstern“ bittet, die dem Tode nahe Elisabeth zu grüßen. Eine paradoxe Situation. Doch genau das entspricht dem Wesen Wolframs, der im Widerspruch zu existieren scheint. Paradox und tragisch eben auch dies: Wolfram kann der geliebten Elisabeth nur wieder nahe sein, indem er den befreundeten »Rivalen« Tannhäuser zur Rückkehr bewegt, um durch seine Gegenwart Elisabeth in die Gesellschaft zurückzuholen. Hätte Wolfram nicht von ihr erzählt, Tannhäuser wäre weitergezogen. „Nach Freiheit doch verlangt es mich, nach Freiheit, Freiheit dürste ich“. Tannhäuser verlässt die Venuswelt nicht, um auf die Wartburg zurückzukehren: „Mein Weg heißt mich nur vorwärts eilen, / und nimmer darf ich rückwärts sehn.“ Dann hält ihn, nicht uneigennützig, Wolfram auf: „Bleib bei Elisabeth!“ Das Spiel zunächst und dann die Katastrophe nehmen ihren Lauf. Und der Papst als Vertreter der Institution der Nächstenliebe besiegelt unbarmherzig das Schicksal Tannhäusers wie Elisabeths.

Schon in der Tannhäuser-Ballade des 14. und 15. Jahrhunderts wird vorgeführt, dass es mit der Unfehlbarkeit des Papstes nicht weit her ist: „Der babst het ein steblein in der handt, / das was sich also dürre: / ›als wenig es begrünen mag, / kumpst du zu gottes hulde.‹ / (…) / Das weret biß an den dritten tag, / der stab hub an zu grünen, / der babst schicket auß in alle landt, / wo der Danheuser wer hinkumen. / Do was er wider in den berg / und het sein lieb erkoren. / des must der vierte Babst Urban / auch ewigklich sein verloren.“ Verhaftet in knochigem Dogma wird dem Büßer die Gnade verwehrt. Gottes Gnade aber bedarf eines Stellvertreters nicht. Denn das Wesen der Gnade ist, dass sie unverdient ist. Dass dies bis heute in einem Europa, das sich so vehement auf christliche Grundwerte beruft und dabei am liebsten den Teufel an die Wand malt, nicht gerne begriffen wird, haben die jüngsten Diskussionen um Gnadengesuche klar und deutlich gezeigt. Das ist das Thema im Finale von Richard Wagners Tannhäuser. Nachdem Tannhäuser sich wie kein anderer erniedrigt hatte, wird er mit den Worten zurück gewiesen: „Wie dieser Stab in meiner Hand / nie mehr sich schmückt mit frischem Grün, / kann aus der Hölle heißem Brand / Erlösung nimmer dir erblühn!“ Wenn es daraufhin Tannhäuser ekelt „vor der Verheißung lügnerischem Klang, / der eiskalt mir durch die Seele schnitt“, dann denkt man an die Worte, mit denen ihn Venus entlassen hatte: „Hin zu den kalten Menschen flieh, / vor deren blödem, trübem Wahn / der Freude Götter wir entflohn / tief in der Erde wärmenden Schoß.“ Tannhäuser stirbt am Ende mit den Worten „Heilige Elisabeth, bitte für mich!“ Aber da hat sich das »Stabwunder« längst ereignet.

Wenn ein Unbequemer, ein Querdenker, ein Vor-den-Kopf-Stoßer das Zeitliche segnet, dauert es oft nicht lange, bis seine Verklärung einsetzt und ihn immer alle schon geschätzt haben wollen. Wenn am Ende von Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg auch der Landgraf und die Sängerkollegen mit den Pilgerchören einstimmen in das hymnische „Der Gnade Heil ward dem Büßer beschieden, / nun geht er ein in der Seligen Frieden!“, dann mag doch auch einige Verwunderung und befremdliche Distanz mitschwingen. Hätten sie ihn lebend und „unentsühnt“ noch entdeckt, wäre Tannhäuser vermutlich niedergestreckt worden von jenen, die ihn nach Rom gejagt haben mit den Worten: „Mußt’ unsre Rache weichen, / weil sie ein Engel brach, / dies Schwert wird dich erreichen, / harrst du in Sünd’ und Schmach!“ Er ist ein Fremdkörper in dieser Wartburggesellschaft, die seine Unkonventionalität attraktiv findet, die sich im Glanz dieses unheimlichen Faszinosums auch gerne gruselnd sonnt. Weil, wie Lothario in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahren feststellt, „die Menschen das Außerordentliche außer der Ordnung tun.“ Darin findet sich auch die Reibung wieder, die der Künstler möglicherweise braucht, um schöpferisch tätig sein zu können. In der produktiven Unauflösbarkeit dieses Widerspruchs steckt zum Teil auch Wagners, und nicht nur seine, Konzeption vom Künstlerdrama.

Dass und wie es diesen Widerspruch auszuhalten heißt, hat im Jahr 1981 der Dichter Thomas Brasch beschrieben, als er aus den Händen des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauß den bayerischen Filmpreis entgegennahm: „Unter den Widersprüchen, die unsere Zeit taumeln lassen, zwischen Waffenstillstand und Krieg, zwischen dem Zerfall der Ordnung, die Staat heißt, und ihrem wütenden Überlebenskampf, zwischen dem Alten, das tot ist, aber mächtig, und dem Neuen, das lebensnotwendig ist, aber nicht in Aussicht, scheint der Widerspruch, in dem ich arbeite, ein geringer: gleichzeitig ein Denkmal zu setzen dem anarchischen Anspruch auf eigene Geschichte und dies zu tun mit dem Wohlwollen derer, die eben diesen Versuch unmöglich machen wollen und müssen, der Herrschenden nämlich. (…) Die Gesellschaft (…) hat die Künste in die Zerreißprobe zwischen Korruption und Talent geschleift, und nicht die Künste werden diesen Widerspruch abschaffen, sie können sich ihm nur aussetzen, um ihn besser zu beschreiben.“

Der »Romantiker« Richard Wagner hat dabei immer nach Formen der Erlösung gesucht. Tannhäuser und Elisabeth sterben, zuvor nie vereinigt, noch vor Tristan und Isolde ihren Liebestod. Möglicherweise dachte Wagner ja wirklich an die Bergschluchten in Goethes Faust, wenn „una poenitentium, sonst Gretchen genannt, sich anschmiegend“ spricht: „Neige, neige, / Du Ohnegleiche, / Du Strahlenreiche, / Dein Antlitz gnädig meinem Glück! / Der früh Geliebte, / Nicht mehr Getrübte, / Er kommt zurück.“

© Oliver Binder, 2008 - Erschienen im Programmheft zur ›Tannhäuser‹-Inszenierung von Jasmin Solfaghari an der Oper Köln (Bühne: Frank Philipp Schlößmann, Kostüme: Mechthild Seipel) am 15. März 2008.

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