Oliver.Binder.gif

Von der Gnade des göttlichen Eros.

Annäherungen an Gustav Mahlers achte Sinfonie (2011)

„... weil die Menschen das Außerordentliche außer der Ordnung tun.“
(Johann Wolfgang von Goethe, ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹)

Bewegte Zeiten Die Uraufführung der achten Sinfonie von Gustav Mahler (1860 – 1911) am 12. September 1910 in München unter seiner eigenen Leitung war ein Triumph. Wie nie zuvor wurde er vom Publikum auch als Komponist bestätigt. Gleichzeitig war der Mensch Mahler von Grund auf verunsichert: Die Vorbereitungen für dieses (zudem gesellschaftliche) Großereignis waren überschattet von der Affäre seiner zwanzig Jahre jüngeren Frau Alma mit dem Architekten Walter Gropius. Mahler war derart erschüttert, dass er sogar, zumindest einen Spaziergang lang, den Psychoanalytiker Sigmund Freud konsultierte. Eisern musste er in seinem ganzen Elend alle Kraft aufbringen, um jene gewaltige Achte erfolgreich ins Werk zu setzen, in der am Ende die erlösend-liebende Kraft des Ewig-Weiblichen besungen wird. Gleichzeitig überschüttete er Alma mit flehentlichen Liebesbezeugungen, die bei Drucklegung der achten Sinfonie in die Widmung des Werkes mündeten: „Meiner lieben Frau Alma Maria“.

Entstanden war die Sinfonie vier Jahre zuvor. „Es ist das Größte, was ich bis jetzt gemacht habe. Und so eigenartig in Inhalt und Form, dass sich darüber gar nicht schreiben lässt“, berichtet Mahler im August 1906 nach einem seiner Komponier-Urlaube, die der sonst viel beschäftigte Direktor der Wiener Hofoper in Maiernigg am Südufer des Wörthersees verbracht hatte. Hatte er bisher meist mindestens über zwei Sommer hinweg an einem neuen Werk gearbeitet, so brachte er das Particell der überbordenden Achten in einem einzigen, nur wenige (sechs oder acht) Wochen dauernden Schaffensrausch zu Papier. Als die Reinschrift der Partitur im Frühjahr 1907 abgeschlossen war, verlangte die kolossale ›Vokalsinfonie‹ einen bis dahin nie erlebten riesigen musikalischen Apparat: Großer, doppelter Chor. Knabenchor. Acht Solisten. Ein immens besetztes Orchester.

Und doch ist Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 8 nicht aus ihrer Monumentalität heraus zu begreifen. Die Klangmasse ist nicht ihr Kern. Diese ist Mittel, um Außerordentlichem musikalisch Ausdruck zu verleihen; Mittel, um die Klangfarben aufs Äußerste zu differenzieren; Mittel, um den höheren Sphären durch den Einsatz spezifischer Instrumente wie Celesta (die Himmlische!), Harmonium oder Mandoline eine charakteristische Aura zu verleihen. Außerordentlich war, dass eine Sinfonie nahezu durchgesungen wurde. Und außerordentlich war die Zusammenstellung der Texte: Gustav Mahler vertonte und vereinte in seiner Achten einen lateinischen Pfingsthymnus aus dem neunten und (leicht gekürzt) Goethes Faust-Finale aus dem neunzehnten Jahrhundert. Zwar warf er über beides ein sinnstiftendes musikalisches Motivnetz, doch der komplexe Sinn der Sinfonie erschließt sich auch in Betrachtung der in Musik gesetzten Dichtungen. Zusammengenommen spiegeln sie Mahlers Glauben an die Unsterblichkeit wider, deren Voraussetzung er im geistvoll-schöpferischen Tätigsein sah.

Aus Goethes Perspektive Gustav Mahlers Unsterblichkeitsglaube war, vermittelt durch den Schriftsteller Siegfried Lipiner, maßgeblich genährt von den Studien des Physikers und Naturphilosophen Gustav Theodor Fechner und hatte in der zweiten, so genannten „Auferstehungssinfonie“ bereits früh einen künstlerischen Ausdruck gefunden. Seine metaphysische Gewissheit von der ewigen Fortdauer der eigenen Existenz führt aber auch zu Johann Wolfgang von Goethe, den Mahler aus der genauen Kenntnis von dessen Werk und Weltanschauung heraus verehrte. Goethes Faust-Tragödie, die über die bekannte Gretchen-Episode weit hinausreicht, findet erst nach langem rastlosen Tätigsein der Titelfigur in der mit „Bergschluchten, Wald, Fels“ überschriebenen Szene ihr Ende. Dort ereignet sich die Umwandlung von Fausts „Unsterblichem“ in einen nicht mehr begreifbaren, höheren, von jedem „Erdenrest“ befreiten Zustand. Gustav Mahler vertonte diese ›Schlussszene aus Faust‹ in seiner achten Sinfonie im Wissen um das zuvor durchstürmte, volle Leben von Goethes zwiespältigem Helden:

Zu Beginn des Dramas verschreibt Faust seine Seele an den fortan dienstbaren Teufel Mephistopheles für den Fall, dass ihn dieser je durch Genuss zufriedenstellen könne. Das Mädchen Margarete wird von ihm schwanger und als Kindsmörderin eingekerkert. Für den bankrotten Kaiser erfindet er das Papiergeld und damit die Spekulation. Aus dem urgöttlichen Reich der Mütter raubt er eine Opferschale und illusioniert aus ihrem Rauch Helena, den Inbegriff der Schönheit. Leidenschaftlich von ihr besessen, sucht und findet er Helena in antiker Traumwelt, zeugt mit ihr einen Sohn und verliert schließlich beide. Sein Vorhaben, dem Meer Land abzutrotzen, um dort der Menschheit neuen Lebensraum zu erschließen, ist durch militärischen Einsatz und zivile Opfer erkauft. Fausts Utopie, nach Trockenlegung des letzten Sumpfes schließlich „auf freiem Grund mit freiem Volke [zu] stehen“, lässt ihn vorausfühlend den „höchsten Augenblick“ genießen und damit paktgemäß das Leben und an Mephistopheles seine Seele verlieren. Während des burlesken Lauerns auf Fausts Psyche reizen Engelsjünglinge so lange des Teufels Libido, bis sie dem lüstern Unachtsamen die Beute „pfiffig weggepascht“ haben. All dies und noch viel mehr ist geschehen, bevor Fausts „Unsterbliches“ nun in der ›Bergschluchtenszene‹ seine Erlösung – von eigener Schuld, vom Bösen – durch eine allmächtige Liebe erfährt und sich seine mystische Metamorphose ins nicht mehr Sagbare erfüllt.

Ihren Anfang hatte Fausts Tragödie mit seinem verzweifelten Erkenntnisdrang genommen, zu ergründen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Dafür hatte er sich der Magie zugewandt und den alles gestaltenden Erdgeist herbeigerufen, den Goethe in einer Arbeitsnotiz als „Welt u Thaten Genius“ bezeichnete und wenige Zeilen darunter zur Faustgestalt an deren Lebensende vermerkte: „Schöpfungs Genuß von innen“. Das Genie als gestaltende und damit künstlerische Energie erkannte der Freidenker Goethe auch in der Anrufung des „Schöpfer Geistes“, wie er sie in einem lateinischen Pfingsthymnus des 9. Jahrhunderts vorfand. 1823 notierte er in einer Ausgabe von Kunst und Altertum: „Der herrliche Kirchengesang ,Veni Creator Spiritus’ ist ganz eigentlich ein Appell ans Genie; deswegen er auch geist- und kraftreiche Menschen gewaltig anspricht.“ Bereits 1820 hatte er selbst davon eine Übersetzung angefertigt. Vermutlich ohne von Goethes ähnlich begeisterter Lesart dieses Lobpreises zu wissen, stellte ihn Gustav Mahler als flammende Bitte um Inspiration in seiner achten Sinfonie dem Schluss von Goethes Faust voran.

Von göttlicher Eingebung Zufällig wäre ihm, so erzählte Gustav Mahler seinem Biografen Richard Specht, ein altes Buch in die Hände gefallen, „und ich schlage den Hymnus Veni creator spiritus auf – und mit einem Schlage steht das Ganze vor mir: nicht nur das erste Thema, sondern der ganze erste Satz und als Antwort darauf konnte ich gar nichts Schöneres finden, als die Goetheschen Worte in der Anachoretenszene.“ Im produktiv tätigen Geiste Goethes verstand und verwendete der gebürtige Jude Gustav Mahler diesen Pfingsthymnus, nicht im Sinne des Katholizismus, zu dem er 1897 aus taktischen Gründen konvertiert war, weil ihn im stark antisemitisch grundierten Wien nur so sein Weg zur Hofoperndirektion führte. Mahler war durchaus ein gläubiger Mensch, doch konfessionsgebundene Bekenntnisse waren seine Sache nicht. „Ihn verlangte“, so berichtet der ihm vertraute Maler und Bühnenbildner Alfred Roller, „nach keinem Mittler zu Gott“.

An Schawuot, dem jüdischen Wochenfest, das sieben Wochen nach dem Pessachfest anlässlich des Jahrestages der Offenbarung der Thora auf dem Berg Sinai gefeiert wird, soll sich, so berichtet es die Apostelgeschichte, der Heilige Geist in die Jünger Jesu ergossen haben. Sieben Wochen, das sind gut fünfzig Tage - und aus dem griechischen „pentekostē hēmera“ (der fünfzigste Tag) wurde das deutsche „Pfingsten“. Als christliches Fest wird es erst um das Jahr 130 erwähnt. Und auch den Heiligen Geist kennt schon das alte Testament respektive der jüdische Tanach als Heiligen Atem (Ruach HaQodesh) oder Gottesatem (Ruach HaElohim). Vermutlich ist es in Bezug auf Mahlers Achte nur ein Zufall, dass dieser Atem (Ruach) im Hebräischen feminin ist und Goethes letzte Faust-Worte im Chorus mysticus davon sprechen, dass uns das Ewig-Weibliche hinan ziehe. Ebenso zufällig mag es sein, dass Mahler das dreifache Piano, in dem er diesen Chorus mysticus („Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis …“) beginnen lässt, ausdrücklich mit der Anmerkung „wie ein Hauch“ versieht. (Und ganz nebenbei: „Bist Du es?“, fragt der Erdgeist Faust, „der, von meinem Hauch umwittert, / In allen Lebenstiefen zittert …“)

Für Rabanus Maurus (ca. 780 bis 856), Abt des Klosters Fulda und Erzbischof von Mainz, der als Autor oder wenigsten Mittler des Pfingsthymnus’ „Veni, creator spiritus“ angenommen wird, war der Angerufene freilich zunächst Protagonist der Trinität im Sinne einer christlichen Glaubenslehre. Dabei spricht der Verfasser nicht vom Heiligen Geist („sanctus spiritus“) sondern vom Schöpfer-Geist („creator spiritus“). Er wird als „Siebengestaltiger“ („septiformis“) bezeichnet, denn er ist im Stande sieben Gaben zu verleihen: Weisheit, Verstand, Rat, Stärke, Erkenntnis, Frömmigkeit und Gottesfurcht. Im Mittelalter gilt er zudem als Urheber der sieben freien Künste der Antike: Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Mit den vielfältigen Wegen, die Theologie, Kunst und Wissenschaft miteinander verbinden, war der Universalgelehrte Rabanus Maurus – darin Goethes beschlagener Faustfigur nicht unähnlich – als federführende Persönlichkeit der karolingischen Kultur wohl vertraut. Sein Pfingsthymnus preist die Glorie des schöpferischen Geistes. Dieser wird herab- und herbeigerufen, um gnädig die Herzen der Seinen zu besuchen. Ihnen wäre er Wasser wie Feuer, spirituelle Kraft und Karitas. Es folgt die Bitte um tugendhafte Standhaftigkeit, die Erleuchtung der Sinne und liebeserfüllte Herzen. Durch ihn möge der Feind weichen und Frieden einkehren. Durch ihn, den sieben Gaben Verleihenden, ließen sich Gott Vater und Sohn erkennen. Er könne Gnade schenken und Verstrickungen lösen. Am Ende wird, einschließlich des für Mahler so bedeutsamen Auferstehungs-Topos’, Gottes Dreieinigkeit gerühmt.

„Beim Eintritt in das altgewohnte Arbeitszimmer packte mich der spiritus creator und schüttelte und peitschte mich 8 Wochen lang bis das Größte fertig war.“ So erinnerte sich Gustav Mahler an die Entstehung der achten Sinfonie im Sommer 1906. Er bezeichnete sie als sein wichtigstes Werk, auch wenn ihr spätere Adepten zuwenig Gebrochenheit und zuviel bejahende Signalwirkung vorwarfen. Mahlers Kompositionen aber, bei aller Unverwechselbarkeit des ›Tons‹, kennzeichnet gerade ihre Verschiedenartigkeit. „Es wäre mir unmöglich einen Zustand zu wiederholen“, sagte er, „und wie das Leben weiter treibt, so durchmesse ich in jedem neuen Werk neue Bahnen.“ Über die neue Bahn der Achten war er sich völlig im Klaren: „Ich habe nie etwas Ähnliches geschrieben; es ist im Inhalt und im Stil etwas ganz anderes, als alle meine anderen Arbeiten.“ Hatte ihm die Komposition einer Sinfonie bisher bedeutet, „mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt auf[zu]bauen“, so griff er mit der Achten zu den Sternen: „Denken Sie sich, dass das Universum zu tönen und zu klingen beginnt. Es sind nicht mehr menschli[che] Stimmen, sondern Planeten und Sonnen, welche kreisen.“ In der Tat war es unerhört, die Singstimme so umfassend als Instrument einzusetzen und die unterschiedlichen Strukturen von Wort und Ton in sinfonischer Form so konsequent zu durchwirken.

Der Faust-Schluss Mahlers ursprünglicher Plan hatte einer erkennbar viersätzigen Sinfonie gegolten. Darin war das hymnische „Veni, creator spiritus“ immer als Kopfsatz, der letzte Satz als „Geburt des Eros“ oder „Schöpfung durch Eros“ vorgesehen. Dieses Vorhaben löste er ausgerechnet mit dem marianisch verbrämten Faust-Schluss auch ein. Die ›Mater gloriosa‹ lässt Goethe von dem ›Doctor Marianus‹ als „Göttern ebenbürtig“ rühmen. Mit den gleichen Worten hatte Faust zuvor die begehrte Helena beschrieben. Hintergründig wird die „Jungfrau, rein im schönsten Sinn“ gepriesen – wie Sandro Botticelli einst Venus und Maria schwesterngleich malte: die eine der Muschel der Sinneslust entsteigend, die andere von der gleichen Muschel als Himmelszelt überspannt. Solcher Art allmächtige Liebe, in der sich Irdisches und Göttliches aufheben, wird Fausts „Unsterbliches“ teilhaftig und artet ins Unbeschreibliche um. Dieses „Unsterbliche“ hatte Goethe in einem Entwurf noch als „Entelechie“ bezeichnet: das, was sein Ziel in sich selbst trägt und dessen Energie sich nur vorübergehend in einem Körper ausdrückt.

„Ich zweifle nicht an unserer Fortdauer“, meinte Goethe einmal in einem Gespräch mit Eckermann, „denn die Natur kann die Entelechie nicht entbehren, aber wir sind nicht auf gleiche Weise unsterblich, und um sich künftig als große Entelechie zu manifestieren, muss man auch eine sein.“ Mahler wiederum schreibt in einem Brief an seine Frau: „Der Mensch – und alles Wesen wahrscheinlich – sind unaufhörlich produktiv –. Auf allen Stufen geschieht dies unzertrennlich vom Wesen des Lebens: wenn die Produktionskraft versiegt, so stirbt die ,Entelechie’, d.h. sie muss einen neuen Leib erhalten.“ Die Schlussszene aus Faust beschreibt eine solche metaphysische Transformation. Kurz zuvor war Faust nach einem an Taten und Untaten reichen Leben gestorben. Seine Seele, die Mephistopheles vertraglich zugestanden wäre, hat trickreich eine Schar von Engeln erbeutet. In der darauffolgenden letzten Szene – verortet als „Bergschluchten, Wald, Fels“ – beginnt der Reinigungsprozess dieser Seele, dieses Unsterblichen, dieser Entelechie. Um diesen eher ideellen Vorgang dennoch anschaulich zu machen, lässt Goethe mythologische Spielfiguren auftreten, „Anleihen aus dem kultischen Arsenal des Katholizismus“ (Albrecht Schöne). Auch Mahler bekannte: „Ich musste mich dieser schönen und zureichenden mythologischen Vorstellungen als Mittel für meine Darstellung bedienen.“ Bis zum Ende dieser letzten Szene sollte überdies bedacht werden, dass Goethe sein Faust-Drama als „sehr ernste Scherze“ bezeichnet hatte.

Anachoreten – frühchristliche fromme Eremiten – lagern über die Höhen eines Gebirges verteilt. Ein Chor beschreibt die dynamische Atmosphäre dieses Ortes als „Heiligen Liebeshort“. Ein ›Pater Extaticus‹ bittet mit der Verzückung eines Märtyrers, die ihn mit „schäumender Gottes-Lust“ erfüllt, um die Fortdauer ewiger Liebe. Ein ›Pater Profundus‹, seinem Namen nach aus der Tiefe rufend, preist die allmächtige Liebe als Schöpferin der ihn umgebenden, bewegten Natur. Die ungestüme Kraft von Wassersturz und Wetter sind ihm Liebesboten, von denen er hofft, entzündet und so aus seiner Askese erlöst zu werden. Danach schweben jene Engel, die in der Szene zuvor noch gegen Mephisto und seine Teufel agiert haben, „Faustens Unsterbliches tragend“ ein. Sie stellen in Aussicht, einen, der „immer strebend sich bemüht“ hat, erlösen zu können. Die Liebe „von oben“ allerdings ist die Voraussetzung, in die Schar der Seligen aufgenommen zu werden. Sie freuen sich, Rosen streuend die gegnerische Teufelsschar in die Flucht getrieben zu haben. Fausts „Seelenschatz erbeuten“ konnten sie letztlich aber nur, indem sie die Höllengeister Liebesqualen fühlen ließen. Anzüglich erinnern sie daran, wie sie mit engelhafter Laszivität selbst Mephisto homosexuell erregten und verwirrten. Fausts Unsterbliches jedoch können selbst die Engel nicht von seinem „Erdenrest“ reinigen. Von den letzten „Flocken“ irdischen Daseins befreien ihn selige, weil früh verstorbene und daher erfahrungslos-unschuldige Knaben.

Am höchsten Punkt der Szenerie wird der ›Doctor Marianus‹ der „Himmelskönigin“ gewahr. Begeistert bittet er die „Höchste Herrscherin der Welt“ um die Duldung heiliger Liebeslust. Der antiken Helena gleich nennt er sie „Göttern ebenbürtig“ und ersucht sie um Verständnis für die „Schwachheit“ des Leibes. Drei Büßerinnen bitten bei der ›Mater gloriosa‹ um Gnade für eine weitere Büßerin („una poenitentum“ [sic!]), „sonst Gretchen genannt“. Diese wiederum erfleht ihr Glück, den „früh Geliebte[n] / Nicht mehr Getrübte[n]“ wiederzusehen. Sie möchte ihm, der einmal Faust war und sich in seinem neuen Zustand noch nicht zurecht findet, das noch Unbegreifliche nahebringen. Dafür gewährt ihr die ›Mater gloriosa‹ in noch höhere Sphären aufzusteigen, wohin ihr der Neu-Geartete nachfolgen werde. (Von der „Fortsetzung der Liebe der Geschlechter“ spricht Stephan Landolt.) Der ›Doctor Marianus‹ bittet die ›Mater gloriosa‹ um fortwährende Gnade, preist sie als „Jungfrau, Mutter, Königin“ und – gegen jedes christliche Dogma – als „Göttin“. Alles, was danach geschieht, kann ein ›Chorus mysticus‹ nur andeuten. Denn nun ereignet sich – in ironischer Zweideutigkeit von ,Nicht-zu-erlangendem’ und ,Unvollkommenem’ – das „Unzulängliche“, das „Unbeschreibliche“ findet statt. Zum Schluss die Einsicht und / oder Aussicht: „Das Ewig-Weibliche / Zieht uns hinan“ – womit nach Hans Schwerte (recte Hans Ernst Schneider) das Weibliche „als ‚ewig’ wirkend-schaffend in den ganzen Kreis der Schöpfung mitverantwortlich einbezogen“ erscheint.

Das musikalische Gewebe In der – den beiden Textkorpora geschuldeten – Zweiteilung von Gustav Mahlers achter Sinfonie sind weiterhin die Konturen ihrer ursprünglich geplanten viersätzigen Anlage erkennbar. Die Vertonung des Pfingsthymnus’ „Veni, creator spiritus“ im ersten Teil fungiert klar als in sich geschlossener Kopfsatz, dem trotz seiner Textbestimmtheit über weite Strecken die Orientierung am klassischen Sonatensatzverlauf gelingt. Die Vertonung des Faust-Finales im zweiten Teil weist die Struktur der drei weiteren Sätze auf: Die Anachoretenszene (Eingangschor, Pater Profundus und Pater Extaticus) erscheint als Adagio-ähnlicher langsamer Satz, die Engelszene als Scherzo und die Mater-gloriosa-Szene als Schlusssatz. Untereinander sind alle diese Sätze durch zahlreiche musikalische Querbezüge verbunden. Motivische Keimzelle ist das wuchtige „Veni, creator spiritus“-Thema der ersten Takte. Aus ihm entwickelt sich das „Accende“-Thema im Hymnus, woraus sich im Faust-Teil wiederum das Thema der erlösenden Liebe ableitet, das schließlich in das licht-schwebende Thema der ›Mater gloriosa‹ überführt wird. Am Schluss kehrt die Sinfonie mit unterschiedlichen Ausgestaltungen des „Veni“-Themas thematisch wieder an ihren Ausgangspunkt zurück. Fallen so die allmächtige Liebe und der Schöpfergeist in Eins?

Mit den mehrfachen motivischen Verknüpfungen beider Teile unterstrich Mahler musikalisch den inhaltlichen Zusammenhang der vertonten Texte. Durch Anton von Webern ist der Hinweis des Komponisten überliefert: „Diese Stelle bei accende lumen sensibus – da geht die Brücke hinüber zum Schluss des Faust. Diese Stelle ist der Angelpunkt des ganzen Werkes.“ Die aufschwingende lateinische Hymnusstelle „Accende lumen sensibus / infunde amorem cordibus“ („Zünde den Sinnen Licht an, / gieße Liebe in die Herzen“) korrespondiert musikalisch deutlich mit dem freudigen Ausruf der Faust-Engel „Gerettet ist das edle Glied / Der Geisterwelt vom Bösen, / ›Wer immer strebend sich bemüht / Den können wir erlösen.‹“ Auch die feierlichen Lobpreisungen der naturgewaltigen, allmächtigen Liebe zuvor durch den Pater Profundus stehen in einem ähnlich motivischen Zusammenhang. So weist die verflochtene Semantik von Wort und Ton bereits im Verlauf der Sinfonie darauf hin, dass Genie und Eros die erlösenden Gaben einer göttlichen Gnade sind.

Teilweise identes Melos setzt auch andere Passagen miteinander in Verbindung. Wenn im zweiten Teil die Engel an den ihnen unangenehmen körperlichen Rückständen Fausts mit den Worten scheitern „Uns bleibt ein Erdenrest / Zu tragen peinlich, / Und wär’ er von Asbest / Er ist nicht reinlich ( ... ) / Kein Engel trennte / Geeinte Zwienatur / Der innigen Beiden, / Die ewige Liebe nur / Vermags zu scheiden“ vermerkt Mahler zum Vortrag in der Partitur: „Wie die gleiche Stelle im I. Teil“, wo um die Stärkung der körperlichen Hinfälligkeit durch beständige Tugend gebeten wird („Infirma nostri corporis / virtute firmans perpeti“). Und die Worte der ›una poenitentum‹, die einmal Gretchen war, anlässlich der Faust gewährten Gnade („Er ahnet kaum das frische Leben / So gleicht er schon der heiligen Schar ...“) versieht er mit der Anmerkung: „etwas frischer als die betreffende Stelle im I. Teil“, wo der Schöpfergeist gebeten wird, die ihm zugetanen Herzen mit Gnade zu erfüllen („Imple superna gratia, / quae tu creasti pectora“). Ohnehin ist dieser Schöpfergeist durch sein prägnantes Hauptmotiv – in abgewandelter Form wie in seiner Urgestalt – im gesamten Faust-Teil immer wieder präsent; am deutlichsten freilich in den pompösen Schlusstakten.

Trotz aller inhaltlichen und musikalischen Verbindungslinien unterscheiden sich beide Teile naturgemäß aufgrund der jeweiligen Textform im Ausdruck. Mahlers Musik entspricht dem Hymnus in einem affirmativen und der Theaterszene in einem oratorisch-kantatenhaften Grundgestus. Dabei jedoch gerät das Eine zur Voraussetzung für das Andere: Aufruhr und Ungestüm, die über weite Strecken den „Veni, creator spiritus“-Teil beherrschen, geben auch der Idee des rastlosen, „faustischen“ Tätigseins in aller Vielfalt musikalischen Ausdruck, kulminierend im vorübergehenden Furor einer Doppelfuge. Kontrastreich dazu entsteht, gleichsam nach einem zuvor wie wild durchstürmten Leben, fast aus der Stille heraus die Atmosphäre der Schlussszene aus Goethes Faust. Ihr musikalischer Anfang „weiß“ bereits von der Melodie der geheimnisvollen Verszeilen des ›Chorus mysticus‹ im Finale: „Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis“.

© Oliver Binder, 2011 – Erschienen im Programmheft der Kölner Philharmonie anlässlich einer Aufführung von Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 8 unter Markus Stenz am 24. und 25. September 2011.

Bottom.gif
 
esbleibtdabei.at Info-Logo