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Auf der anderen Seite der Wirklichkeit.

Engelbert Humperdinck, das Märchen und das Leben (2005)

Einerseits, andrerseits Ein Männlein steht im Walde. Ein purpurnes Mäntelein trägt es. Und ein schwarzes Käppelein. Wer das wohl sein mag? Die Hagebutte. So lautet des Rätsels Lösung. An den Fliegenpilz aber denkt, wer nur die erste Strophe des berühmten Volksliedes kennt. Irgendwie spielt der Tod ja doch immer mit. Oder der Wahnsinn. Engelbert Humperdincks Märchenoper Hänsel und Gretel - mit ihren Schutzengeln und ihrem Hexentreiben, dem ew'gen Schlaf, der Kindsbäckerei und dem Hexenmord - ist alles andere als das Zeugnis einer naiven Komponistenseele. Auch, wenn die Oper gut ausgeht. Auch, wenn Humperdincks Schwester Adelheid Wette als Textdichterin alles daran setzte, eine verzeihliche Mutterfigur zu schaffen. Auch, wenn die soziale Härte durch allerlei Liedchen gemildert erscheint. Am Ende wird die Hexe ja doch verbrannt. Lebkuchen hin, Lebkuchen her. Märchen sind meist nun einmal beides: grausam und hoffnungsfroh, grotesk und erhaben. Ihr fantastischer Anteil spiegelt die reale Erfahrung an der Welt.

Die Tag- und Nachtseiten der Märchen beschäftigten Humperdinck immer wieder. Rund um Hänsel und Gretel (1893) finden sich noch Schneewittchen (1888), Die sieben Geißlein (1895) und Dornröschen (1902). Schließlich Königskinder (1896 / 1910): Mit ihnen kann er noch einmal einen Welterfolg verbuchen. Doch Humperdincks Bild als musikalischer Märchenonkel wird seiner Biografie nicht gerecht. Sein Leben, das am 1. September 1854 in Siegburg begann und am 27. September 1921 in Neustrelitz ausklang, spiegelt alles andere als bequeme Honorigkeit. Kein Abenteurer, aber ein Entdecker. Kein Revolutionär, aber voll Eigensinn. Richard Wagner anzuhängen, wie er es tat, bedeutete damals, sich abzugrenzen. Dass Engelbert Humperdinck überhaupt Komponist werden wollte, widersprach den Erwartungshaltungen des Herrn Papa. Was Ordentliches sollte er studieren, der musische Sohn, der schon früh - und unterstützt von der Mutter - komponierte. Architekt sollte er werden. Und setzte schließlich doch seinen Kopf als Musiker durch.

Wanderer und Farbenreiber „Wo habt Ihr einen Schauplatz des Lebens für mich?" So lässt Goethe den Haupthelden Crugantino in seiner Claudine von Villa Bella nachdrücklich fragen, um dann nachzusetzen: „Eure bürgerliche Gesellschaft ist mir unerträglich!" Zu diesem Schauspiel hatte Engelbert Humperdinck 1872 eine Ouvertüre komponiert, die ihm noch im Mai desselben Jahres die Türen zum Kölner Konservatorium öffnete. Dort studierte er bei Ferdinand Hiller, dem rheinischen Musikpapst. 1877 ging er in München durch die harte, gründliche Schule des Josef Rheinberger und lernte dort auch bei Franz Lachner, dem Anti-Wagnerianer. Höchstpersönlich hatte Richard Wagner 1873 im Kölner Gürzenich Ausschnitte aus eigenen Werken dirigiert. Eine Provokation damals in den Augen der öffentlichen Meinung. Humperdinck war - wohl begeistert - dabei. Und er war nun - entflammt - dabei, als in München eine zyklische Aufführung von Wagners Ring des Nibelungen gegeben wurde. Humperdinck wird Mitglied der „Ritter des Heiligen Graals-Ordens".

Er geht auf Reisen. Nach Rom. Nach Neapel. Dort sucht er am 9. März 1880 Richard Wagner auf. Es »funkt«. Eine rührende Freundschaft beginnt. Eine fruchtbare Arbeitsgemeinschaft entsteht. Humperdinck reist weiter nach Sizilien. Im Mai findet er sich wieder bei Wagner ein. Der lädt ihn ein, an der Uraufführung des Parsifal mitzuwirken. Humperdinck zeichnet diese Zeit später in seinen „Parsifal-Skizzen" nach: „'Ja, mein Lieber', fügte Wagner hinzu, ‚die alten großen Meister der Malerei haben auch erst Farben reiben müssen, ehe sie anfangen durften, selbstständig zu arbeiten.' - ‚Gut', erwiderte ich, ‚so komm ich als Farbenreiber.'" Er widmet sich dieser Aufgabe in den nächsten Jahren hingebungsvoll, fast selbstvergessen. Er assistiert dem so tief verehrten Meister bei der Partiturabschrift und bei der musikalischen Einstudierung. Als dann der Umbau im dritten Akt länger als geplant dauert, erklingen mit dem Segen des Prinzipals für einige Vorstellungen sogar etliche Takte aus der Feder Humperdincks. 1883 stirbt Wagner in Venedig. Humperdinck, zu diesem Zeitpunkt in Paris, ist tief getroffen. „Ohne die beabsichtigte Heranbildung zu vollenden, ist er mir unversehens davongegangen und hat mich unfertig, ja ich muss sagen, verwaist, hier zurückgelassen", schreibt er. Und weiter: „Die Welt und die Geschichte werden sagen: Wagner ist zur rechten Zeit gestorben, nachdem er sein Werk vollendet hatte - nur für mich ist er zu früh gestorben."

Lange Zeit gelingt es dem Komponisten nicht, sich aus einer schöpferischen Schockstarre zu lösen. Nach Wagners Tod reist er wieder. Rastlos. Nach Spanien, nach Algerien, nach Frankreich, in die Schweiz. Krank trifft er in Köln ein, „der Krämerstadt". Hier wohnen auch seine Schwester Adelheid und ihr Mann, der Arzt und Schriftsteller Dr. Hermann Wette. Am Kölner Stadttheater tritt er im November 1883 die Stelle des 2. Kapellmeisters an. Nach einem Monat schon kündigt man ihm „wegen allzu großer Gewissenhaftigkeit und zeitraubender Gründlichkeit". Irgendwie stagniert alles. Irgendwie schlägt er sich durch. „Nichtstun, mich amüsieren, in den Tag hinein leben, das ist das Richtige", schreibt er aus München an Wette. Die Lektüre von Ernest Renans Leben Jesu habe ihn „zu einem träumerischen Schwärmer gemacht, dem alles, selbst seine Degeneration, wurscht ist." Er betätigt sich immer wieder als Journalist und Musikkritiker und hält es widerwillig als musikalischer Lakai von Alfred Krupp in Essen aus. Höchst glücklos übernimmt er einen Lehrauftrag in Barcelona und kehrt als Konservatoriumsprofessor zurück nach Köln. In Mainz arbeitet er als Lektor beim Musikverlag Schott und lehrt in Frankfurt am Hoch'schen Konservatorium.

Der lange Weg zum Meisterwerk 1890. Das Blatt wendet sich. Hänsel und Gretel entsteht. Was als Gelegenheitsarbeit beginnt, wächst sich über gut drei Jahre zu einem aufwendigen Feilen am Welterfolg aus. Auf die Beiläufigkeit folgt höchste Sorgfalt - und der feste Wille zum Durchbruch. Ein „Cassenstück ersten Ranges" soll es werden. Was am Ende ein Stück für die ganze Familie wird, ist das Werk einer ganzen Familie. Humperdinck selbst wird es das „Familienübel" nennen. Alle arbeiten daran mit: Humperdincks Schwester Adelheid, sein Schwager Hermann Wette und sein Vater Gustav. Jawohl, der Herr Papa, der einst so sehr die Seriosität des Sohnes überwachte, dichtet nun selbst.

Am Anfang steht ein selbst geschriebenes Märchenspiel. Adelheid will es von ihren Kindern ihrem Mann zum Geburtstag spielen lassen. Sie schickt Engelbert vier Lieder mit der Bitte um Vertonung. Die Kompositionen treffen fast postwendend wieder bei den Wettes in der Gereonsmühlengasse ein und tragen den ironischen Vermerk: „Ein Kinderstuben-Weihfestspiel". Von großer Oper ist noch keine Rede. Wohl aber reift der Plan, das kleine Liederspiel zu einem richtigen Singspiel auszubauen. Adelheids Text wird überarbeitet. Aus dem Liederspiel verbleibt lediglich „Brüderchen, komm tanz mit mir". Humperdinck komponiert Neues: das Griesgram-Duett, den Auftritt des Vaters, den Abendsegen. Und er nimmt mit „Suse, liebe Suse" und „Ein Männlein steht im Walde" zwei bekannte Volkslieder auf. In erweitertem privatem Kreise kommt es bei Wettes zu einer Aufführung. Freunde mäkeln am Text. Humperdinck packt der Ehrgeiz. Hänsel und Gretel wird beständig weiter durchgearbeitet. Zu Weihnachten 1890 verehrt Humperdinck seiner Braut Hedwig Taxer das fertige Particell des Singspiels. Als er sich im Folgejahr an die Instrumentation der einzelnen Nummern macht, fängt er unweigerlich an, das ganze Stück durchzukomponieren. Im Dezember 1891 schloss er die Ouvertüre ab. Gute zwei Jahr nimmt die vollständige Ausarbeitung der Oper in Anspruch. Am 1. Oktober 1893 lag die Partitur in 50 autographierten Exemplaren vor.

Die ganze Unternehmung war keinesfalls großbürgerlicher Zeitvertreib. Es war eine Frage der Existenz. Nicht allein für Engelbert Humperdinck. Auch für Adelheid und Hermann Wette. Am 2. Februar 1893 schreibt die Schwester dem Bruder: „Wir sitzen nämlich so arg in Not und Sorge, dass wir kaum mehr recht aufzuatmen wagen. Hermann hat mit Wüllners Gelde die nötigsten Zahlungen gemacht und da von Patientengeldern bis jetzt nur erst sehr wenig eingekommen ist, sitzen wir fast gänzlich auf dem Trockenen und wissen heute nicht, woher das Geld für morgen nehmen. Ich leide schrecklich unter diesem steten Drucke, der keine rechte Freude in mir aufkommen lässt, und nur diesem ist es zu danken, dass meine Nahrungsquelle für meine lieben Kleinen täglich mehr und mehr versiegt, worüber ich sehr traurig bin. Ist das ein Elend!" Doch das Elend sollte bald ein Ende haben. Unter der Stabführung von Richard Strauss wurde Hänsel und Gretel am 23. Dezember 1893 in Weimar uraufgeführt. Schon zuvor hatte sich Strauss in den höchsten Tönen über das Werk geäußert. Man kann nicht in Abrede stellen, dass er die in der Tat bestechenden Qualitäten des Werkes aufrichtig zu würdigen wusste. Doch der Jubel fußte wohl auch auf der untrüglichen Witterung des steten Karrieristen Strauss nach einem Erfolg. Mit beidem sollte er Recht behalten.

Schalk und Schelm Vordergründig vielleicht sind die genial kindlichen Ohrwürmer aus Hänsel und Gretel von bürgerlicher Beschaulichkeit. Doch das spätromantische Idyll hängt eng mit der Lust am Grausen zusammen. Das Motiv von „Suse, liebe Suse" schleicht sich in die Hexenballade ein. Und das Schauerliche besitzt Humor. Mit musikalischem Witz und nicht ohne Sexappeal zeichnet Humperdinck die Knusperhexe. Er war nicht so bieder wie seine Rezeption. 1878 hatte er mit der Walfahrt nach Kevlaar den subtilen Spötter Heinrich Heine vertont. Was auf den ersten Blick als fromme Ballade erscheint, wirft nicht minder einen ironischen Blick auf volkstümliche Frömmelei. 1879 entwarf Humperdinck eine Bühnenmusik zu den Fröschen des Aristophanes, eine anspielungsreiche Komödie, die scharfzüngige Zeitkritik mit derben Späßen vereint. Der Gott Dionysos steigt hinab in die Unterwelt, um in Ermangelung dichterischer Größen eine der verstorbenen wieder ins Leben zu holen. Dabei trägt Aischylos nach einem gewitzten Wettstreit mit Euripides den Sieg davon. Kunstvoll werden hohes Ethos und burleske Blasphemie verwoben. Der feinen satirischen Klinge sekundieren allerlei Fürze, Anzüglichkeiten und Schlägereien.

„Verprügelt mir nicht Jeden! Dafür aber die richtigen saftig." So lauten die Worte Childerichs III. von Bartenbruch an seine Knechte in Heimito von Doderers Romangroteske Die Merowinger (1950 - 1962). Vielleicht hätte Humperdinck seine Freude daran gehabt, diesen Stoff auf die Opernbühne zu bringen. Ein offensichtlicher Hang des Komponisten zum Bizarren und Skurrilen zeigt sich jedenfalls im Vorhaben aus dem Jahr 1877, Dr. Katzenbergers Badereise von Jean Paul zur Oper umzuarbeiten. Im Zentrum dieser Erzählung steht mit dem Anatom Dr. Katzenberger ein begeisterter Sammler von Missgeburten und Missbildungen aller Art. Als er seine wissenschaftlichen Schriften journalistischen Verrissen ausgesetzt sieht, plant er Vergeltung. Katzenberger begibt sich in den Kurort Maulbronn, um dort - mit Erfolg - den kritischen Verfasser unter den Tisch zu saufen, zu verprügeln und ihm so eine Widerrufserklärung abzunötigen. Im stolzen Besitze eines achtfüßigen Hasen und einer sechsfingrigen Hand tritt der Held seine Rückreise an. „Der Poet Nieß hatte aus dem Vorfalle eine ganze Theaterkasse voll Einfälle und Situationen erhoben", heißt es am Ende des 14. Kapitels, „und auf der Stelle den Plan zu einer komischen Oper entworfen, worin nichts als Missgeburten handeln und singen sollten."

Hexen Die ausgesprochenen Satiren blieben im Musiktheaterschaffen des Engelbert Humperdinck nur Pläne. Doch Scherz und Ironie werfen ein beständig feines Netz über sein Werk. Das Kuriose, das Wunderliche, das Zwielichtige auch ringt ihm wohl Sympathie ab. Die »andere Seite« übte eben schon immer eine ungebrochene Faszination aus. Zwei Seiten können durch Wände, durch Zäune, durch Hecken voneinander getrennt werden. Hag - so lautete dereinst das althochdeutsche Wort für Hecke. Mit dem germanisch-norwegischen Tysja (für Elfe, böser Geist) fügte es sich zu Hagazussa: Ein auf Hecken und Zäunen sitzendes, reitendes, fliegendes Zauberwesen, beheimatet in Grenzregionen, Frau oder Mann. Im Mittelhochdeutschen wurde es zu Hecse, später zur Hexe. Man schrieb ihnen Schadenszauber gegen andere Menschen zu. Der irreale Aberglaube schlug in reale Angst und Panikmache um. Als im Jahr 1486 der Dominikaner Heinrich Kramer den Hexenhammer (Malleus Maleficarum) veröffentlichte, war auf Basis dieser pseudowissenschaftlichen Abhandlung der systematischen Verfolgung und Vernichtung von »Hexen« Tür und Tor geöffnet. Missernten, Hungersnöte, Epidemien - rasch waren Schuldige gefunden. Unliebsame Nachbarn, Konkurrenten und Andersgläubige waren schnell denunziert. Vom 15. bis ins späte 18. Jahrhundert schreibt sich die Geschichte der europäischen Hexenprozesse. Die Scheiterhaufen des 20. Jahrhunderts haben tiefe Wurzeln.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts begannen die Gebrüder Jakob und Wilhelm Grimm ihre Sammlertätigkeit. 1812 und 1814 erschienen die ersten beiden Bände der Kinder- und Hausmärchen. Nicht viel Zeit war also vergangen, seit den letzten »Hexen« der Prozess gemacht worden war: 1775 in Deutschland, 1782 in der Schweiz, 1793 in Polen. Als 1890 Adelheid Wette ihr Hänsel und Gretel - Spiel niederschrieb, lag der letzte Kölner Hexenprozess über 200 Jahre zurück. Anne Toer hieß die Frau, die nach einer Selbstanklage 1662 an das Hohe Weltliche Gericht ausgeliefert worden war. Etliche der Kölner »Hexen« sind noch heute stadtbekannt: Katharina Henot, Christina Plum, En Volmers. Wenn sich die Macht und der Mob zusammentun, passiert meist wirklich Schauerliches. Doch das Schauerliche war gleichzeitig immer ein dankbares Thema für die schönen Künste - in der Malerei, in der Musik, in der Literatur. Auch das mittelalterliche Köln bot dafür eine eindrucksvolle Kulisse. Hier lässt um das Jahr 1534 Waleri Jakowlewitsch Brjussow seinen 1908 erschienenen Roman Der feurige Engel spielen. In den 1920er Jahren schuf Sergej Prokofjew daraus seine Oper. Eine düster beklemmende Geschichte aus der frühen Neuzeit um zwei verzweifelte Lieben, daraus entwachsenden Verrat, schwarze Magie, Hexensabbat, Heilserwartung, Dämonen- und Teufelsaustreibung.

Dagegen nimmt sich die Knusperhexe in Humperdincks Hänsel und Gretel schon wieder heiter aus. Rosine Leckermaul nennt sie sich. Von ihrem Treiben und dem ihrer zahlreichen Gefährtinnen erzählt der Besenbinder in der Hexenballade. Das Besen-Thema zitiert Humperdinck später in seiner zweiten großen Oper Königskinder. Augenzwinkernd verweist er damit auf sich selbst. Auch in den Königskindern gibt es eine Hexe. Bei ihr wohnt die Gänsemagd, die der Königssohn zur Braut auserwählt. Arme Leut', die können keine Könige sein, drum werden beide aus der Stadt gejagt. Die Bürgerschaft handelt dabei viel unmenschlicher als die böse Zauberin. Diese wird, bevor das traurige und winterkalte Finale anheben kann, der Stumpfheit der Stadtbewohner zum Opfer gefallen sein. Der Tonfall orientiert sich auch in diesem Werk am großen Vorbild Richard Wagner. Im Klang des Orchesters, in der musikalischen Gestik. Nie kopiert Humperdinck den Bayreuther Meister. Doch merkt man die Hintergrundstrahlung. 1896 waren die Königskinder zunächst als Melodram ausgeführt, das bereits den Weg zu Arnold Schönberg weist. Erst 1910 arbeitete Humperdinck sie zu einer großen Oper um, die - wie zuvor auch Hänsel und Gretel - einen Siegeszug durch Europa und nach Übersee antrat.

Deutungen und Wahrheiten Mit den Königskindern hatte Humperdinck ein Literaturmärchen vertont. Hänsel und Gretel hingegen war ein und gilt bis heute als das Volksmärchen schlechthin. Auch darin mag ein Grund liegen, warum der Erfolg dieser Oper ungebrochen anhält. Jedes Märchen, und dieses in so schlichter wie konzentrierter Form, wird erzählt als Gleichnis für unser Erlebtes und eigenes Erleben. Märchen chiffrieren unsere Wirklichkeit. Wird diese Gleichnishaftigkeit aufgehoben, verliert das Märchen seine ureigenste Funktion. Doch tun Andeutungen und Verweise dem Märchenhaften keinen Abbruch.

Exemplarisch werden uns in Hänsel und Gretel die zwei Seiten der Wirklichkeit vor Augen geführt. Das Elternhaus und das Hexenhaus. Die »guten« Eltern, die überfordert sind. Die »bösen« Eltern, die mit vermeintlicher Sorglosigkeit locken. Kinder, die die Gefahr überwinden. Kinder, die erwachsen werden. Kinder, die am Ende mit beiden Beinen im Leben stehen. Märchen erzählen uns Reifungsprozesse und geben in der Überwindung von Grausamkeiten Hoffnung. Bruno Bettelheim (1903 - 1990), der die Konzentrationslager der Nazis überlebt hatte und im hohen Alter sich selbst das Leben nahm, hat dies in seinem mittlerweile legendären Buch Kinder brauchen Märchen überzeugend dargelegt. Der Tiefenpsychologe und Theologe Eugen Drewermann führt in seinen Märcheninterpretationen Bettelheims Überlegungen differenzierter und ganz im Zeichen der Humanitas heutzutage weiter fort.

Nie ist die Mutter (und also die Hexe), so Drewermann, „nur die Kalte, Verstoßende, Abweisende oder die Verlockende, Schenkende und Fressende; sie ist vielmehr … verstoßend aus überforderter Liebe und verschlingend in all den Ängsten, die sie mit ihrer Nähe wie mit ihrer Entfernung in einem Kind erzeugt. Doch wenn ihr Kind, ein »Hänsel-und-Gretel«-Junge, erst einmal zu sich selber erwacht - er beseitigt die »Hexe«, er entdeckt seine beachtlichen Fähigkeiten, selber zu leben, er entkommt dem »Ställchen«, er entflieht dem »Backofen« überhitzter (»inzestuöser«) Gefühle und macht sich selbst auf den Weg, er findet den Standpunkt am »anderen Ufer«, jenseits des »Hexenwaldes« - , wird er dann nicht von selbst beginnen, die notvollen Brechungen im Charakter seiner Mutter zu verstehen, statt sie noch länger zu fürchten?"

Das Lachen Lortzings Abseits dieser Ernsthaftigkeit hat sich der Satiriker und Cartoonist Hans Traxler mit der Causa auseinandergesetzt. Die Wahrheit über Hänsel und Gretel (Frankfurt, 1963) heißt jener Klassiker, in dem eine archäologische Spurensuche fingiert wird. Deren kriminologisches Ergebnis lautet, dass Hans Metzler und dessen Schwester eine gewisse Katharina Schraderin vorsätzlich zur Strecke gebracht hätten. Aus verschmähter Liebe zum einen, um an ihr streng gehütetes Lebkuchenrezept zu gelangen zum anderen. Die Knusperhexe, „das Opfer eines vorkapitalistischen Wirtschaftsverbrechens". Vermutlich liegt Traxler mit seiner Wissenschaftsparodie sehr nahe am Humperdinckschen Humorzentrum.

„Entweder Mord und Totschlag oder Operettenblödsinn oder gar zuckersüße Märchen!" So klagt Humperdinck auf der Suche nach einem geeigneten Libretto im Januar 1895. „Es ist gerade, als ob wir fin-de-siècle-Menschen das Lachen Rossinis, Aubers und Lortzings ganz verlernt hätten." 1899 beschloss er, ein Lustspiel des älteren Alexandre Dumas zur komischen Oper umzuarbeiten. Aus Les demoiselles de St. Cyr wurde Die Heirat wider Willen. Uraufgeführt abermals durch Richard Strauss, 1905 in Berlin. Ein heiteres, ein galantes Werk: Liebeswirren des Rokoko, in denen zwei beherzte Damen mit Witz zum Ziel gelangen.

Humperdinck arbeitete dann mit dem Theatermagier Max Reinhardt zusammen. Dass sich Reinhardt, ein Genie seiner Zeit, an Humperdinck wendet, wirft auch ein würdigendes Licht auf den Komponisten. Es entstanden Schauspielmusiken zu Shakespeares Ein Wintermärchen, Der Kaufmann von Venedig, Der Sturm und Was ihr wollt. Er komponierte die Musik zu Karl Vollmöllers Das Mirakel. Max Reinhardt brachte diese Mysterien-Pantomime in der Londoner Olympia Hall 1911 mit knapp 2000 Mitwirkenden zur Uraufführung.

1912 erlitt Humperdinck einen Schlaganfall. Mit den Opern Die Marketenderin (1914 in Köln uraufgeführt) und Gaudeamus (1918 in Darmstadt) kann er an die einstigen Erfolge nicht anschließen. Seine zahlreichen Klavierlieder, die Kammermusik, die Chorwerke und seine einstmals erfolgreiche Maurische Rhapsodie verblassen in der Wahrnehmung der musikalischen Nachwelt. Weit mehr also war Humperdinck als der Komponist von Hänsel und Gretel. Diese »andere Wirklichkeit« sollte man sich immer wieder in Erinnerung rufen. Auch den Schalk gilt es nicht zu vergessen.

© Oliver Binder, 2005 / 2007 - Ursprüngliche Fassung des Programmheftbeitrages zur ›Hänsel und Gretel‹-Inszenierung von Jürgen Rose an der Oper Köln (Bühne und Kostüme: Jürgen Rose) am 17. November 2005.

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