Oliver.Binder.gif

Weißt du, wie das wird?

Versuch über ein philharmonisches Konzert (2004)

Wir sehen dich, Erde, wir sehn dich.
Seele um Seele
setzest du aus,
Schatten um Schatten.
So atmen die Brände der Zeit. Paul Celan, Von Schwelle zu Schwelle

Antschel Paul. Ein Dichter. Jude. Geboren 1920 in Czernowitz, Bukowina. Antschel ist zweiundzwanzig, da beginnt eine zweite Deportationswelle. Die Eltern werden ins Konzentrationslager Michailowka verbracht. Der Vater stirbt im Herbst 1942: Typhus oder Tod durch Erschießen. Die Mutter stirbt im Winter 1942/43: Genickschuss. Der Sohn, dem Grauen entkommen, studiert, lektoriert, übersetzt, schreibt selbst. Bukarest, dann Flucht nach Wien. Nach einem halben Jahr schon: Paris, bis ans Lebensende. Dort nennt er sich Ancel, bald schon Celan. Der Lyriker, einer der bedeutendsten, schreibt, beschreibt und beschreit das Trauma seines Jahrhunderts. Der oft Miss- und zu Unrecht Unverstandene gerät schließlich in die Mühlen der ästhetischen Beurteilung seiner Wahrhaftigkeit. Eine verzögerte Auslöschung.

Celan, Paul. Ein Dichter. Die Biographie eines Shoa-Entkommenen. Ein Stück Musiktheater als unbiographischer Versuch darüber. Komponist: Peter Ruzicka. Musikalische Studien dazu, eine Materialsammlung: „... Vorgefühle ..." für Orchester aus dem Jahr 1998. Natürlich: Man muss aufmerksam zuhören, muss entdecken wollen, muss sich konfrontieren. Dann aber erklingt da eine Musik - zart, schroff, sich aufbäumend und schmerzlich verstummend - der man sich auch emotional nicht entziehen kann; und sollte. Dachte ich, nachdem es zumindest mir so ergangen war. Das Konzentrat nicht eines Lebens. Aber einer längeren, immer wieder kompositorischen Auseinandersetzung. Keine Programm-Musik jedoch, kein Heldenleben.

Die so genannte Wehrmachtsausstellung war in der Stadt. Ein Anschlag mit Buttersäure ließ das Museum mit Polizeischutz sich wappnen. Der Faschismus lässt Europa bis heute nicht zur Ruhe kommen.

Es gäbe übrigens keinen Klassenkampf gegen das Kleinbürgertum, schreibt mir ein Freund. Aber dafür ficht das Kleinbürgertum täglich seinen Kampf mit allem aus, was nicht hinter seine enge Stirn passt. Und es siegt meistens. Schon deshalb, weil es sich von Grund auf ohnehin als Sieger betrachtet. Und es ist, auch hinter den Masken der großbürgerlichen Parvenüs, allgegenwärtig. Und wir, die wir uns mokieren, sitzen in den gleichen Kaffeehäusern, während wir unsere Gedanken darüber notieren. Besuchen die gleichen Konzerte. Ruzicka, Beethoven, Schubert.

Und während Ruzickas Vorgefühle zum Klingen kommen in einem dieser modernen Konzertsäle mit ausgefeiltester Akustik, mit Top-Design, mit der Perfektion des berechneten Unfehlbaren - einer dieser Bauten, auf die die kulturbeflissenen Bürger einer vermeintlichen Großstadt so stolz sein wollen; während Ruzickas Gefühle dort also luzide zum Klingen gebracht werden, da friert das Publikum ein, erstarrt. Ist nicht einmal mehr bereit, die Kröten, wie sie sonst es gutmütig lächelnd nennen, zu schlucken. Es wehrt ab. Zeigt seine Macht. Kainsmalen gleich glaubt man auf den Stirnen, den engen, das Wort „entartet" zu lesen. Verbieten würden sie sie am liebsten, die Klänge, die in immer wieder neuen Anläufen jenen zum Thema haben, der verspätet auch an solcher Un-Geisteshaltung zerbrochen war, tonlos zerschellte. Ausgerechnet am 20. April des Jahres 1970 hatte Paul Celan seinen Tod in der Seine gesucht.

Der Applaus war kaum vorhanden. Mühsam hielten ihn einige wenige aufrecht. Viele erachteten es nicht einmal der Mühe wert, der Leistung des Orchesters und des Dirigenten Achtung zu zollen. Verachtung lag in der Luft. Sie strömte aus allen Poren der parfümierten Gesellschaft. Man konnte sie riechen. „Die Spur eines Bisses im Nirgends. / Auch sie / mußt du bekämpfen, / von hier aus." So heißt es in Paul Celans Gedichtband Fadensonnen. Vielleicht kann man die Bisse der Kleinbürger auch deshalb so schwer bekämpfen, weil sie schweigend umso mehr sich ins Fleisch graben.

Unser Beethoven. Endlich! Ein Klavierkonzert, das Vierte. Vertrautheit als Wiedergutmachung. Der Pianist, ein Könner seines Faches freilich, und dennoch ein Meister der Unverbindlichkeit, ein Virtuose der Gefälligkeit, lässt die Läufe sanft perlen. Blickt verinnerlicht. Wirft auch einmal engagiert den Kopf in den Nacken. Wiegt ab und zu mit verhaltener Vehemenz den Oberkörper. Freundlich begleitet das Orchester. Verklärt blicken alt und jung auf das Podium, lassen vom Wohlklang die Ohren umschmeicheln. Man hat sich das verdient nach einem harten Arbeitstag.

Nun tobt der Saal. Bessere Menschen vermöge die Musik, solche nämlich, zu zaubern, so erzählt man sich irgendwo. Unser Beethoven! Der Kommandant welchen Lagers war es noch - Auschwitz, Buchenwald ... -, der Abends nach getaner Arbeit sich ans Klavier gesetzt haben soll, um Beethoven zu spielen? Jenen Beethoven übrigens, der nicht nur in Fidelio sein musikalisches Manifest in tyrannis verfasste. Beethoven hat sich aufgerieben an der Welt. Und sie benützt ihn heute dafür, sich mit Edelmut anzusaufen. Einst hat er verstört, jetzt montiert man ihn als Stoßstange, wenn Neues - das, was gehört werden will aber kaum einer hören will - Unruhe stiftet. Wie nah liegen heute Abend Verachtung und Verzücken.

Ganz unvermittelt die Erinnerung an einen mit betrunkenen Fußball-Fans überfüllten S-Bahn-Waggon auf der Fahrt in die Nachbarstadt. Das Parfüm heißt Schweiß und Bier. Die blanke Aggression. Pur. Aus sich heraus. Weil es nur den Verein als Sinnstifter gibt in diesem Leben. Der Stumpfsinn für viele als Lebenssinn. Die Angst vieler anderer davor, es auch zu benennen. (Vom „internationalen Sport, diesem unschätzbaren Kriegsersatz" spricht Susan Sontag.) Weil der Sport eine Meinungsmacht ist, der man besser nichts entgegenstellt. Schnell ist man dann zur Hand mit dem Gesage, dass Sport - so behaupten sie, und meinen doch nur den Markt dazu - ja ebenso Kultur sei. Mitsamt all den Anhängern: Die Wir-haben-gewonnen und die Ihr-habt-verloren. Die Braven des Alltags werden zu Identifikationsgrölern. Wenn sie wollen, schlagen sie auch zu.

Das Konzertpublikum dagegen gibt sich zivilisiert. Es würde nie zuschlagen. Verbieten, ja, das vielleicht schon. Oder einem Verbot nicht widersprechen. Oder bei einem Glas Sekt, scherzend zumindest, über die Kunst sprechen, die man verbieten müsste. Aber heute erträgt man den Ruzicka doch, weil ja der Beethoven so schön war. Und jetzt kommt gleich noch der Schubert. Die große C-Dur Symphonie. Auch das wird bestimmt schön.

Dass der Schubert dann nicht schön ist, traut sich allerdings keiner zu sagen. Weil er, der Schubert, sie trotz aller C-Dur über einen Abgrund nach dem anderen jagt. Eine ganze Stunde lang. Weil aber nicht sein kann, was nicht sein darf, weil das nämlich die Wiener Klassik sein muss, versteht man selbst nicht so recht, warum man plötzlich unruhig wird auf den Plätzen. Versucht, sich nicht weiter konzentrieren zu müssen. Obwohl die Große unentwegt dazu zwingt. Sie gewährt keinerlei Unverbindlichkeit. Man schiebt's auf die vorgerückte Stunde. Man blickt auf die Uhr. Nicht, weil etwa spannungslos musiziert würde. Im Gegenteil: Gerade deshalb, weil der Dirigent zupackt, die Atemlosigkeit von Schuberts Letzter in dieser nun so verdammt brillanten Akustik sich auf alles und jeden überträgt, uns keinen Augenblick zur Ruhe kommen lässt, vorantreibt in unserer Aufmerksamkeit, die sich doch so gerne zurücklehnen würde und pausieren; weil diese C-Dur-Sinfonie - wie fast jede seiner Kompositionen - alle verhöhnt, die bis heute nur das Schubert-Klischee vom „Schwammerl" gelten lassen wollen. Aber das sagt niemand, das wagt man nicht einmal zu denken, weil ein solcher Gedanke dann womöglich an der eigenen Biedermeierlichkeit, der immerwährenden, rütteln würde. Den Schubert also, den will man immer noch brav. Weil ja auch der „Lindenbaum" am besten doch nur aus der ersten Strophe bestünde.

Am Ende klatschen sie doch. So wie auch am Ende von Goethes Iphigenie geklatscht wird, wenn die Kostüme schön waren. Ganz gleich, ob man's verstanden hat oder nicht. Nicht-Klatschen hieße, das mögliche eigene Unverständnis zu verraten. Dann lieber zu viel Applaus als zur Schau getragene Ratlosigkeit. Sieht man sich wieder beim nächsten Mal? Da gibt's dann nur Haydn und Brahms. Wiener Klassik und deutsche Innerlichkeit. Hat das Lachsbrötchen in der Pause gemundet? Vielleicht wechselt man auch einmal den Frisör. Manfred sah nicht gut aus in der Pause. Kein Wunder bei der Programmauswahl. Es wird zuviel gefördert heutzutage. Es gab eben Zeiten, als auf guten Geschmack noch Wert gelegt wurde. Ja, früher …!

Warum fühle ich mich plötzlich so unwohl?

Und plötzlich frage ich, der Enkel, mich wieder einmal - im Kreise mich drehend, ja!, weil um die Tatsachen und Mechanismen doch längst ausführlich unterrichtet - wie das denn damals gewesen sein muss, als der Faschismus in Europa erst langsam keimte und in kürzester Zeit alles zu überwuchern begann. Und ich denke mir, heute Abend, den Mob des Proletariats und den Mob des Kleinbürgertums zusammen. Den Konzertsaal und das Stadion. Wie war das einst? Wie wird das einst? „Was uns beschäftigt", schreibt Thomas Mann in der »Höllenfahrt«, dem Vorspiel zu seinem Josephs-Roman, „ist nicht die bezifferbare Zeit. Es ist vielmehr ihre Aufhebung im Geheimnis der Vertauschung von Überlieferung und Prophezeiung, welche dem Worte ›Einst‹ seinen Doppelsinn von Vergangenheit und Zukunft und damit seine Ladung potentieller Gegenwart verleiht."

Nachspiel. Eine Geigerin des Philharmonischen Orchesters erklärt mir später, dass sie Gott sei Dank das Konzert nicht spielen musste, weil ihre Mutter erkrankt war. Ruzicka nein, Beethoven ja. Musiker seien außerdem grundsätzlich romantisch. Sonst müsse man diesen Beruf ja nicht ergreifen. Von Schubert und Abgründen will sie nichts wissen. Ihre scheinbare Erfahrenheit versucht über den Anschein meiner Unerfahrenheit milde zu lächeln. Außerdem, so fügt sie im Abgehen noch hinzu, möge sie auch Schubert nicht.

© Oliver Binder, 2004 / 2007 - Anläßlich eines Konzertes der Dortmunder Philharmoniker unter Arthur Fagen am 10. November 2003.

Bottom.gif
 
esbleibtdabei.at Info-Logo